Die Antwort vor der Frage

Predigt zu Frage 1 des Heidelberger Katechismus

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Von Kathrin Oxen

Ein Mensch braucht Trost.

Der Säugling, schreiend in seiner Wiege - der Greis, im Sterben eine liebe Hand umklammernd:
der zur Welt kommt und der aus dem Leben geht, beide brauchen Trost.

(Rudolf Bohren)

 „Ja? Jaa?“ ruft sie und zeigt mit dem kleinen Zeigefinger auf das, was sie haben möchte. Das kann eine Mandarine sein, noch ein Dominostein oder noch ein in buntes Stanniolpapier eingewickeltes Stückchen Schokolade. Besonders jetzt, in der Adventszeit gibt es da eine ganze Menge, auf das sie zeigen kann.

Meine jüngste Tochter  ist fast zwei Jahre alt. Mit dem Sprechen hapert es noch ein bisschen und sie wird sehr ärgerlich, wenn sie nicht verstanden wird, insbesondere wenn es um etwas so Dringliches wie Dominosteine geht. Wir haben ein bisschen gebraucht, um zu verstehen, warum sie dann immer Ja? ruft. Ihre große Schwester hat mir dann erklärt: „Mama, sie kann doch die Frage noch nicht sagen, deswegen sagt sie gleich die Antwort.“ Und natürlich gibt es nur eine mögliche Antwort, wenn man zwei ist und gerne etwas sehr Leckeres haben möchte. „Ja?“

Das Verhältnis zwischen Frage und Antwort verändert sich im Laufe des Lebens. Wir, mehrheitlich älter als zwei, werden besser im Fragen. Dass wir so nachdrücklich gleich die Antworten geben wie meine kleine Tochter, ist eher selten. Die Antworten werden vorsichtiger, leiser, manchmal sind gar keine mehr da. Was immer weiter wächst, sind die Fragen. Manchmal schießen sie geradezu auf, angesichts schwerer Erfahrungen im Leben. Manchmal wachsen sie so unmerklich aus dem Leben heraus wie meine Kinder aus der Winterjacke vom vorigen Jahr.

Auch ich frage, in meinem Alter, einem Alter, dass ich für die Mitte meines Lebens halten soll. Ich blicke zurück, ich schaue nach vorne, Anlässe dazu gibt es ja immer wieder. Ich sehe mein Leben bis jetzt an und frage mich: Warum ist es so gekommen? Wie komme ich damit zurecht? Ich frage so im Blick auf das Schwere, aber auch im Blick auf das Schöne. Und ich frage weiter: Was wird noch kommen? Wie werde ich damit zurechtkommen?

Und wie wird es mit all diesen Fragen sein, wenn mein Blick mehr und mehr zurück geht, wenn sich die Jahre, die rein rechnerisch noch kommen können, schon an den Fingern abzählen lassen? Die Fragen wachsen doch, sie bleiben nicht klein. Die Frage heute morgen ist eine von den ganz großen, gewachsen in vielen Jahren, an vielen Leben, schon bevor sie formuliert worden ist. Und sie ist weiter gewachsen an den Leben und in den Jahren danach. „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“

Wenn man zwei ist, dann kann man schnell getröstet werden. Zu Mama und Papa auf den Arm, einmal pusten oder ein buntes Pflaster, manchmal auch, obwohl man das ja nicht soll, ein Stückchen Schokolade. So laut, wie das Geschrei war, so schnell ist es wieder gut. Auch das verändert sich im Laufe des Lebens. Lautes Schreien und Weinen wird weniger, obwohl die Schmerzen nicht kleiner werden, nur anders. Und Trost? Zu Mama und Papa auf den Arm, das ist irgendwann vorbei, wenn man auf eigenen Beinen steht. Da gibt es kein Zurück, da muss man dann schon alleine durch.

Und Trost – gibt es den überhaupt? So, wie wir meistens davon reden, scheinen wir damit eher nicht zu rechnen. Trostpflaster, Trostpreis, sich mit etwas oder jemandem trösten… Am Anfang eines Lebens, da mag es noch Trost geben, aber da wächst man irgendwann heraus. Das Schöne und das Schwere, Leben und Sterben, da muss man am Ende sowieso alleine durch. Das ist auch eine Antwort. Und da stellt sich dann auch die Frage nicht mehr. 

Wir stellen diese Frage, schon seit 450 Jahren und wir haben eine Antwort.

Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.
Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst; und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.

Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben. 

Das ist eine andere Antwort. Ich höre sie und denke an die Frage und an meine Fragen. Ich bin nicht alleine auf der Welt, lebe mit einem Menschen an meiner Seite, habe Kinder, einen Beruf, Verantwortung. Ich stehe auf eigenen Füßen, ich bin ganz sicher erwachsen  - aber manchmal bin ich verzweifelt erwachsen.

Dann geh ich durch die Tage mit der grimmigen Überzeugung, dass ich am Ende doch ganz alleine zurechtkommen muss. Ich tue viel für andere, aber ich bekomme nicht immer gleich viel zurück. Ich bin für andere da, aber manchmal trotzdem ziemlich allein, besonders mit meinen Fragen. Warum ist das so gekommen? Wie komme ich damit zurecht? Und ich achte sehr darauf, dass man mir all das nicht anmerkt, nicht merkt, wie angewiesen und bedürftig ich bin.

Antwort ist eine Antwort für mich und für alle, die manchmal verzweifelt erwachsen sind: Nein, du bist nicht allein. Du bist nicht die einsame Königin im Reich der Selbstbeherrschung. Es gibt Trost für dich, auch dann noch, wenn du deutlich älter als zwei bist. Du gehörst Jesus Christus, du gehörst Gott.

Deswegen kannst Du von niemand anders beherrscht werden. Deswegen musst du dich auch nicht immer selbst beherrschen. Frei und selbständig, geborgen und beschützt zugleich sein, das geht. Deine kindlichen Wünsche werden mit dir zusammen erwachsen. 

Du bist nicht allein auf der Welt und du führst nicht die trostlose Alleinherrschaft über dein Leben. Du gehörst Jesus Christus, du gehörst Gott gehören. Gott setzt uns nicht in der Welt aus und lässt uns wie ungetröstete Waisenkinder zurück. 

Gott zu einem Schöpfer für den Augenblick zu machen, der sein Werk ein für alle Mal hinter sich gebracht hätte, wäre eine kalte und unfruchtbare Sache und wir sollen uns gerade darin von den Weltmenschen unterscheiden, dass uns die Gegenwart der Kraft Gottes im fortdauernden Bestehen der Welt ebenso hell entgegenleuchtet wie in ihrem Ursprung (Calvin, Institutio 16,1). 

Gott ist, so übersetze ich diese Worte Calvins, nicht bloß der Erzeuger der Welt, der sich anschließend davongemacht hat. Wie Eltern Eltern bleiben für zweijährige Kinder und für zwanzigjährige, so bleibt Gott Gott, für alles, was er geschaffen hat. Die Schöpfung ist nur ein Augenblick, wie die Zeugung, aber Fürsorge und Begleitung gehen weiter. Gott bleibt, in den Monaten der Schwangerschaft, in den Jahren, die es dauert, bis das Kind einigermaßen auf eigenen Füßen steht und auch später noch, ein Leben lang, dein Leben lang.

Gott trägt dich auf der Hüfte und schaukelt dich auf den Knien, stillt und nährt dich, bis du satt und zufrieden bist, tröstet dich, wie deine Mutter es immer konnte. So einen Gott haben wir. Kein kalter, unfruchtbarer Gott. Er hat alles geschaffen und mich auch. Er bleibt bei mir. Und ich muss durch nichts alleine durch.

Wie einer, den seine Mutter trösten muss, so ist Gott selbst zur Welt gekommen. Als ein Baby, ein Bündelchen Mensch, angewiesen und bedürftig, so wie wir zur Welt kommen und in der Welt sind. Geboren von einer Mutter, wie wir, in einem Stall am Rand des Imperiums, gestillt, gewiegt und gewickelt. Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem, sieh, dein König kommt zu dir.

So kommt Gott zur Welt und so bleibt er in der Welt, geht mit durch alle Fragen, geht bis zum Ende mit, dorthin, wo nur noch Fragen sind. Damit er die Antwort ist. 

Was wird noch kommen? Wie werde ich damit zurechtkommen?
Die Fragen werden weiter wachsen, mein ganzes Leben lang.
Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Dass ich im Leben und im Sterben nicht mir gehöre.
Das ist meine Antwort, vor allen Fragen. Ja. 

Amen.


Kathrin Oxen