Zuerst die Sarrazin-Debatte, dann die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer nach einem Zuwanderungsstop für Türken und Araber und schliesslich die Feststellung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, Multikulti sei absolut gescheitert – immer erregter wird die deutsche Debatte über Multikulturalität und Integration. Aber auch bei uns in der Schweiz scheint die Frage, ob Multikulti gescheitert ist, durchaus berechtigt zu sein. Ist es nicht tatsächlich ein deutliches Signal, wenn eine Anti-Minarett-Initiative, die keine Probleme löst, aber neue schafft, deutlich angenommen wird und nun auch noch die Annahme der Ausschaffungsinitiative zu befürchten ist, für die dasselbe gilt?
Per Onlinevoting hat nun das Internetportal ref.ch eine Antwort auf diese Frage gesucht und das bisherige Ergebnis ist deutlich (Stand 28.10. um 9.30 Uhr: Ja: 60.6%, Nein: 11%, Teilweise: 27.5%, Weiss nicht: 0.9%). Man mag dieses Zwischenergebnis als Zeichen für einen notwendigen Abschied von Illusionen werten, weil tatsächlich mancher in den vergangenen Jahren die Probleme und Schattenseiten der Zuwanderung und der zunehmenden kulturellen Vielfalt eher verharmlost hat. Aber als Ergebnis einer Befragung auf einem reformierten Internetportal finde ich dieses Ergebnis auch erschreckend und ein Signal dafür, wie sich der gesellschaftliche Diskurs rasant verändert. Denn wer Multikulti für gescheitert erklärt, hält entweder unser Gesellschaftsmodell, das auf Vielfalt, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechten (besonders auch der Religionsfreiheit) basiert, für gescheitert oder erweckt die Illusion, dass eine Gesellschaft möglich und wünschenswert wäre, die weniger multikulturell wäre.
Selbstverständlich bedeutet Integration nicht nur fördern, sondern auch fordern und setzt den Integrationswillen und die Integrationsbemühungen derer voraus, die integriert werden sollen. Das ist eine Binsenweisheit und das darf und soll auch unterstrichen werden. Wenn dabei allerdings ein Klima entsteht, das Migrantinnen und Migranten zuerst einmal dem Verdacht aussetzt, sie seien generell nicht integrationswillig oder gar tendenziell kriminell, dann ist das Ziel nicht bessere Integration, sondern Ausgrenzung und Abwehr. Manches in der Debatte der letzten Wochen deutet für mich in diese Richtung und das ist in meinen Augen extrem beunruhigend.
Ja, man darf die Dinge beim Namen nennen. Nur darf dies nicht dazu führen, religiöse oder ethnische Gruppen unter Generalverdacht zu stellen. Und die Erkenntnis, dass eine multikulturelle Gesellschaft wesentlich anspruchsvoller ist als manche Romantiker sich das vorgestellt haben, macht es noch lange nicht wahr, dass die multikulturelle Gesellschaft gescheitert sei. Wir haben multikulturelle Gesellschaften und es kommt darauf an, das Zusammenleben in diesen multikulturellen Gesellschaften so zu gestalten, dass der Friede gewahrt bleibt und ein Zusammenleben auf der Basis gemeinsamer grundlegender Werte gelingt. Es ist zu billig, dass jeder nach seiner Fasson selig werden kann. Es braucht die Akzeptanz gemeinsamer grundlegender Werte, die auch eingefordert werden darf. Wer aber Multikulti für absolut gescheitert erklärt – auch wenn damit ein bestimmtes romantisches Multikultimodell gemeint sein sollte, weckt damit die Illusion, es gäbe einen Weg zu einer homogenen Gesellschaft. Und genau diese Illusion gebiert immer wieder fremdenfeindliche Tendenzen.
Als zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit Christian Wulff davon redete, dass der Islam zu Deutschland gehöre, gab es in konservativen Kreisen einen Aufschrei. Dabei sprach Wulff schlicht eine unübersehbare Tatsache aus (die in der Schweiz in der Schweiz ebenso selbstverständlich sein sollte). Und es war genau diese Feststellung, die ihm dann die Legitimation verliehen hat, seine Aussage nur leicht variiert zu wiederholen: «Das Christentum gehört zur Türkei.» Beide Aussagen verdienen Respekt, weil sie die Menschen ernstnehmen und wahrnehmen, die Religion praktizieren und diesen Menschen mit ihrer religiösen Tradition erst einmal das Vertrauen entgegenbringen, dass sie nicht trotz sondern gerade mit ihrer religiösen Tradition einen Beitrag zur Kultur des Landes leisten können, egal ob es nun ihre erste oder ihre zweite Heimat ist. Und sie weisen darauf hin, dass der Respekt und die Offenheit für unterschiedliche Traditionen und Religionen ein wesentlicher Teil dessen ist, was unsere Kultur ausmacht.
Statt an diese elementaren Dinge anzuknüpfen, haben einige es für nötig gehalten, wieder einmal eine Leitkulturdebatte anzuzetteln, die letztlich keine andere Funktion hat, als aus Emotionen politisches Kapital zu schlagen und vermeintlich Fremdes und Fremde auszugrenzen. Was hier geschieht, hat Thomas Assheuer in der Zeit präzise beschrieben: «Man sieht, sobald die jüdisch-christliche Überlieferung in die Mühlen der Kulturkämpfer gerät, passiert etwas Ungeheuerliches: Die biblische Friedensbotschaft verwandelt sich in eine weltliche Feindschaftsadresse. Ausgerechnet Juden- und Christentum sollen dabei behilflich sein, den islamischen Monotheismus als kulturell unverträglich zu definieren, um ihn semantisch aus der deutschen Wertegemeinschaft auszuschliessen.»
Es ist eine der vornehmsten Aufgaben der christlichen Kirchen, denen mit Nachdruck zu widersprechen, die die jüdisch-christliche Überlieferung dazu missbrauchen, das «Andere» auszugrenzen. Denn wir wissen um unseren eigenen weiten Weg hin zu einer vorbehaltlosen Bejahung von Religionsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und zugleich wissen wir darum, dass diese modernen Grundwerte zutiefst in der biblischen Tradition verwurzelt, aber nicht unser alleiniger Besitz sind.
Bernd Berger
Quelle: www.ref.ch am 28. Oktober 2010 >>> und der Atemhaus Blog von Bernd Berger >>>