Darmstadt, 15. März 2011. Die evangelische und die katholische Kirche in Darmstadt haben am Dienstag, um 18 Uhr, in der Evangelischen Stadtkirche der Opfer des Erdbebens, des Tsunamis und der Atomkraftwerkshavarie in Japan gedacht. In seiner Ansprache sagte Kirchenpräsident Dr. Volker Jung: „Die Atomenergie ist und bleibt zu gefährlich. Sie ist im letzten nicht beherrschbar. Die ihr innewohnende zerstörerische Kraft ist nicht zu verantworten.“
Unsere Gebete sind bei den Menschen in Japan
„Liebe Gemeinde, wir sind Zeugen einer furchtbaren Katastrophe in Japan. Erst kam das Erbeben, dann der Tsunami und nun starren wir wie gebannt auf das Atomkraftwerk von Fukushima. Ja, die Bilder und Berichte, die uns aus Japan erreichen, sind unfassbar. Die Zerstörung ist unfassbar. Küstenstädte, in denen bis vor wenigen Tagen noch buntes Leben herrschte, sind ausgelöscht. Unzählige Menschen kamen um. Zehntausende Familien verloren in Minuten ihr ganzes Hab und Gut. 100.000 Kinder, so wird heute gemeldet, sind obdachlos – inmitten von Trümmern. Da ist viel Trauer und Verzweiflung – in einem doch so starken und eigentlich so reichen Land. Doch das Unfassbare reicht noch weiter: Das Atomkraftwerk in Fukushima ist havariert, zwei weitere Atomkraftwerke sind schwer beschädigt. Rauchsäulen stehen über den Trümmern der Gebäude. Bilder wie in schlimmsten Alpträumen und Katastrophenfilmen sind Wirklichkeit. Die Pfarrerin der evangelischen Gemeinde in Tokio hat das so ausgedrückt: „Das Entsetzen ist so groß und so nah, dass ich es nicht fühlen kann. Es passt in eine Seele nicht hinein.“
Heute Abend sollen unsere Gedanken und unsere Gebete vor allem bei den Menschen in Japan sein. Bei denen, deren Seele nicht fassen kann, was geschehen ist. Ihnen gelten unser Mitgefühl und unsere große Sorge, weil wir nicht wissen, was noch kommen wird. Ich denke an die, die einen Menschen verloren haben. Ich denke an die vielen, die angesichts der Zerstörungen an Leib und Seele verletzt sind. Aber auch an die, die ihre gewohnte Umgebung, ihr Haus, ihr Dorf, ihre Stadt nicht mehr wiedererkennen. In meinen Gedanken sind auch die, die noch einen Funken Hoffnung besitzen, dass ein vermisster Angehöriger doch noch gefunden wird. Und ich denke an all diejenigen, die nun vor den schlimmen Folgen des Atomunfalls betroffen und ihm hilflos ausgeliefert sind. Ich denke jetzt auch an diejenigen, die in den verwüsteten Gebieten im Einsatz sind und helfen. Rettungsdienste, Soldaten, Freiwillige. Meine Gedanken sind schließlich auch bei den Technikern und Arbeitern im Atomkraftwerk Fukushima, die versuchen zu retten, was zu retten ist. Und meine Gedanken sind bei den Verantwortlichen in Japan und aller Welt, die schwierige Entscheidungen treffen müssen oder denen nun bewusst wird, dass sie versäumt haben, genau diese zu treffen.
Ich lege meine Gedanken hinein in die Worte eines alten Gebetes: „Gedenke, Herr, an Deine Barmherzigkeit und an Deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“ So heißt es im 25. Psalm. Diese Worte hat ein Mensch gebetet, um seine vielen Fragen, seine große Unsicherheit, sein Klage, sein Leid und auch seine Schuld Gott anzuvertrauen. Wie auch jetzt standen Menschen schon immer vor der Erfahrung, einerseits Gott angesichts großen Unglücks und großen Leides nicht zu verstehen. Und auf der anderen Seite zu erfahren, dass Gott immer wieder neu Hoffnung und Leben geschenkt hat – auch durch Trauer und Tod hindurch. „Gedenke, Herr, an Deine Barmherzigkeit und an Deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“ Wer so betet, bittet Gott, dass seine Güte und Barmherzigkeit kein Ende hat, sondern dass sie das Dunkle durchbricht und Zukunft schenkt. So möchte ich heute Abend auch für die Menschen in Japan bitten.
„Jetzt darüber nachdenken, was Menschen falsch gemacht haben“
In dem alten Gebet heißt es auch: „Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich.“ Sich nach Gottes Güte und Barmherzigkeit auszustrecken, heißt offenbar auch, bereit zu sein, sich selbst zu prüfen und sich von Gott zurecht bringen zu lassen. Das erbitte ich für uns und alle, die jetzt darüber nachdenken, was Menschen falsch gemacht haben. Diese Selbstprüfung tut not. Wir sind Menschen. Und zum Wesen des Menschen gehört es, dass Menschen Fehler machen. Niemand ist perfekt. Daraus erwächst auch die Einsicht, dass die Technik des Menschen auch nicht perfekt sein kann. Das wird uns in Japan gerade so unbarmherzig vor Augen geführt. Ausgerechnet in einem Land, in dem Perfektion und Technik einen so hohen Stellenwert haben.
„Es kommt auf unseren Lebensstil an“
Umso stärker sind wir auf die Frage zurückgeworfen, was unser menschliches Maß ist. Das gilt auch für unseren Hunger nach Energie. Ohne günstige Energie könnten wir nicht so leben, wie wir es gewohnt sind. Warmes Essen, Klimaanlagen, Licht zu jeder Tageszeit. Dieser Hunger nach Energie ist untrennbar verknüpft mit dem Lebensstandard in westlichen Industrienationen. Das ist nicht nur eine Frage der Politik und der Wirtschaft. Jede einzelne, jeder einzelne muss sich fragen, was ihr, was ihm dieses Leben wert ist. Es kommt auf unseren Lebensstil an. Bisher haben wir dafür alle ein großes Restrisiko in Kauf genommen.
„Wir brauchen einen schnellen und konsequenten Umstieg auf erneuerbare Energien“
Als Christinnen und Christen tragen wir aber Verantwortung vor Gott für den Menschen und die gesamte Natur. Diese Verantwortung erfordert einen sorgsamen Umgang mit der Schöpfung, die uns anvertraut ist. Ich bin überzeugt: Wir brauchen einen schnellen und konsequenten Umstieg auf erneuerbare Energien. Die Atomenergie ist und bleibt zu gefährlich. Sie ist im letzten nicht beherrschbar. Die ihr innewohnende zerstörerische Kraft ist nicht zu verantworten. Ein zukunftsfähiger Umgang mit Energie ist jedoch nicht nur eine politische und technische Herausforderung. Wir müssen uns auch selbst wandeln: ökonomisch, sozial, kulturell. Man könnte diesen Wandel nicht nur als Zwang, sondern auch als große Chance für ein gerechteres Miteinander von Mensch und Umwelt auf der gesamten Erde begreifen. Dass die Bundesregierung heute Morgen angekündigt hat, sieben Atomkraftwerke, darunter auch Biblis A und B, vorübergehend abzuschalten, ist deshalb ein spätes aber ermutigendes Zeichen. Wir bräuchten diese Offenheit viel öfter. Wir werden aber auch genau beobachten, ob diese Änderung in der Energiepolitik ein politischer Notschalter angesichts bevorstehender Wahlen ist oder auf eine stärkere Förderung regenerativer und damit schöpfungsgemäßer Energien hinausläuft.
„Wir begeben uns in die Obhut des Unverfügbaren“
Liebe Gemeinde, „Gedenke, Herr, an Deine Barmherzigkeit und an Deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich.“ Ich bete diese Worte für die Menschen in Japan und für uns - im Vertrauen darauf, dass Gott unsern Seele hilft durch seine Güte und Barmherzigkeit und dass er uns Orientierung und Zukunft schenkt. Die Pfarrerin der Gemeinde in Tokio hat das am Ende ihres Briefes in wunderbare Worte gebracht: „Und dennoch machen wir weiter, tun, was uns aufgetragen ist und beten um die Gegenwart Gottes, die uns Kraft und Gelassenheit gibt. Begeben uns in die Obhut des Unverfügbaren. (...) „Mehr haben wir nicht: Beten und tun, was uns aufgetragen ist.“ Mehr nicht, aber das ist nicht wenig. Amen!“
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