Ausgespuckt
Predigt zu Jona 1 und 2 am 1. Sonntag nach Trinitatis, 6. Juni 2021
Irgendwann wird der Atemreflex so stark, dass man ihn einfach nicht mehr unterdrücken kann. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis man ertrinkt. In einem Meer schwimmt ein Mensch. Er treibt unter Wasser und es ist kein schöner Anblick, wie er da immer schneller nach unten sinkt. Den Mund fest geschlossen, die Augen in Panik hervorquellend. Kleine Luftblasen steigen nach oben. Und das ist das letzte, was die oben auf dem Schiff von Jona sehen. Das Meer ist wieder spiegelglatt. Die Wellen haben sich gelegt.
Ein merkwürdiger Passagier war das, von Anfang an. Einer ohne Gepäck, sich ständig umsehend, so als sei jemand hinter ihm her. Das Ziel der Fahrt scheint ihm vollkommen egal zu sein, Hauptsache, weit genug weg. Er zahlt in bar und steigt wortlos hinab in den Bauch des Schiffes. Dort legt er sich hin, nah an der Bordwand, mit dem Gluckern des Wassers im Ohr und gewiegt von den immer stärker werdenden Wellen.
„Sie schrieen vor dem Tod, und ihre Leiber krallten / sich an den nassen, sturmgepeitschten Tauen,
und irre Blicke schauten voller Grauen / das Meer im Aufruhr jäh entfesselter Gewalten.
‚Ihr ewigen, ihr guten, ihr erzürnten Götter, / helft oder gebt ein Zeichen, das uns künde
den, der euch kränkte mit geheimer Sünde, / den Mörder oder Eidvergess’nen oder Spötter,
der uns zum Unheil seine Missetat verbirgt / um seines Stolzes ärmlichen Gewinnes!‘“
Oben ist es nicht still. Oben donnern die Wellen, Schreie gellen und stumm oder laut beten sie, zu allen bekannten und fremden, ewigen, guten oder erzürnten Göttern, abergläubisch, wie Seeleute nun mal sind. Es ist auch egal, zu wem sie beten, denn irgendwann sind ihre Möglichkeiten in Bezug auf religiösen Beistand ausgeschöpft. Leider gilt das nicht in gleicher Weise für ihr Schiff. Da steht das Wasser immer höher.
Ihnen fällt der merkwürdige Fremde im Bauch ihres Schiffes wieder ein. Dass ein Sturm aufgekommen ist, dass die Wellen stärker wurden, hat er wohl verschlafen. Oder auch nur so getan, als schliefe er. Denn als sie zu ihm hinunterkommen und ihn suchen und fragen, was er tut, woher er kommt, zu welchem Land und Volk er gehört, ist er ganz wach und kann zusammenhängend Auskunft geben: Ich bin ein Hebräer und fürchte den Herrn, den Gott des Himmels und der Erden, der das Meer und das Trockene gemacht hat. Und der hinter mir her ist, denkt er. Aber er sagt es nicht, weil er ihnen nicht noch mehr Angst machen will, wie sie da nass und erschöpft vor ihm standen. Nehmt mich, werft mich ins Meer, so wird das Meer still werden und von euch ablassen.
Gut, der war ja von Anfang an ein bisschen merkwürdig und ganz sicher werfen wir nach der ganzen Ladung jetzt nicht unseren einzigen Passagier über Bord und lassen ihn ertrinken, denken sie. Sie gehen wieder nach oben an Deck, um noch einmal den Kampf mit den Wellen aufzunehmen. Und rudern, bis sie nicht mehr können. Sie wissen, dass man keine Menschen ertrinken lässt und sie wollen auch nicht, dass jemand ertrinkt. Es ist kein schöner Tod. Aber die nächsten, die hier ertrinken, das werden sie selbst sein. Und er hatte es ja angeboten. Obwohl er sich dann doch ein bisschen sträubt, als sie ihn von unten heraufholen und an den Armen und Beinen nehmen und über Bord werfen.
„So flehten sie. Und Jona sprach. ‚Ich bin es! / Ich sündigte vor Gott. Mein Leben ist verwirkt. Tut mich von euch! Mein ist die Schuld. Gott zürnt mir sehr. / Der Fromme soll nicht mit dem Sünder enden!‘ Sie zitterten. Doch dann mit starken Händen / verstießen sie den Schuldigen. Da stand das Meer.“ Das gibt es sonst eigentlich nicht, dass man etwas oder jemanden ins Wasser wirft und das Wasser kommt zum Stillstand, anstatt Wellen zu schlagen. Von der Stelle aus, an der Jona untergangen ist, wird das Wasser glatt wie ein Spiegel. Fast können sie jetzt ihre Gesichter darin sehen, ihre nassen, zerzausten Haare, ihre vom Wasser geröteten Augen, die Müdigkeit und die Angst. Ein paar Luftblasen steigen nach oben. Und auf einmal ist es sehr still.
Wir spiegeln uns in diesem Wasser. Wir sind alle mit in diesem Boot. Wir haben niemanden ins Wasser geworfen, als die Wellen immer höher stiegen, die erste, die zweite und die dritte. Keinen, den wir kennen jedenfalls. Es kann sein, dass es Fremde gibt, mit denen wir nichts weiter zu tun hatten, die nicht zu unserem Land und unseren Volk gehörten. Es kann sein, dass sie irgendwo untergegangen sind im Mittelmeer, lautlos. Ein kaputtes Schlauchboot, eine Schwimmweste, ein Paddel treiben an der Oberfläche. Irgendwann sinken auch die oder werden an einen Strand gespült, an den wir zum Glück nie kommen.
Unser eigener Untergang ist jedenfalls vorerst abgewendet. Die Wellen haben sich gelegt. Die Fahrt geht weiter. Die ersten Kreuzfahrten werden schon wieder gebucht, Frühbucherrabatt und erweiterte Stornomöglichkeiten inklusive, falls es doch wieder losgehen sollte mit diesen Wellen.
Jona ist versunken und mit ihm sein Auftrag: Mache dich auf und gehe in die große Stadt Ninive und predige wider sie, denn ihre Bosheit ist vor mich gekommen. Mit so einem Auftrag kann man ja nur untergehen. Wer will so etwas hören, jetzt, wo die Wellen sich endlich gelegt haben und die Sonne auf das glitzernde Wasser scheint? Jona selbst hatte dazu auch keine Lust gehabt: Leuten, die man nicht kennt, sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Prophetisch predigen, unbequeme Wahrheiten verkünden, das ist doch eine Zumutung, gerade jetzt. Seien wir doch froh, dass es endlich vorbei ist und die Wellen sich gelegt haben. Was unter der glatten Oberfläche ist, interessiert niemanden mehr. Nur die Ertrunkenen.
Ich weiß nicht, mit wem sich Dietrich Bonhoeffer identifiziert hat, als er im Oktober 1944 sein Gedicht „Jona“ geschrieben hat. In diesem Gedicht sind alle schuldig und unschuldig zugleich, wie auf dem Schiff. Jona, der einen Auftrag von Gott hat und ihn nicht annehmen wollte, sondern lieber weggelaufen ist. Die Seeleute, die in die ganze Sache mit hineingeraten sind, als sie Jona an Bord genommen haben. Die irgendwann bereit sind, ein Menschenopfer zu bringen, damit Ruhe ist. In die Wellen geraten sie jedenfalls alle zusammen. Es ist nie einer alleine schuld. Nach Gottes Willen zu handeln, gelingt ihnen allen zusammen nicht.
Dietrich Bonhoeffer mag sich damals im Gefängnis in Tegel wie Jona gefühlt haben, wie über Bord geworfen, wie kurz vor dem Versinken. Ob er sich in seiner Zelle dann aber auch gefragt hat, ob er seinem Auftrag von Anfang an gerecht geworden ist, ob er noch viel unbequemer und deutlicher hätte sein müssen, als er es war? Er der Fromme, ein Sünder?
Und wer sind dann die auf dem Boot, wer hat ihn fallen und untergehen lassen? Seine Verfolger im nationalsozialistischen Staat sind die Ausführenden gewesen, natürlich. Aber wo war eigentlich der Rest der Mannschaft zur Zeit seiner Gefangennahme und seiner Haft? Wer setzt sich für ihn ein, wer rudert wie verrückt, damit er wieder freikommt? Oder haben sich doch alle dem Sturm ergeben, der damals über Deutschland losgebrochen, bereit, Opfer zu bringen? Ist das so, dass wir uns gerne den Stürmen ergeben, das Ergebung immer leichter ist als Widerstand?
Das ist keine lustige Seefahrt. Und es sind unbequeme Fragen, die diese Geschichte uns allen zusammen stellt. Jona ist in ihren Fluten versunken. Es wird uns erzählt, ein Fisch habe ihn verschlungen. Tief unten im Fischbauch kommt Jona wieder zu Atem. Seine tiefste Tiefe ist, wie die meisten Tiefen, ein Ort der Selbsterkenntnis.
Ich rief zu dem HERRN in meiner Angst und er antwortete mir.
Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben.
Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt,
HERR, mein Gott! Als meine Seele in mir verzagte,
gedachte ich an den HERRN, und mein Gebet kam zu dir
Die sich halten an das Nichtige, verlassen ihre Gnade.
Aus einer Tiefe, in die uns unsere Wellen geworfen haben, tauchen wir gerade wieder auf. War die Zeit der Pandemie, die Tiefe, die wir erlebt haben, eine Zeit der Selbsterkenntnis oder machen wir weiter wie bisher? Halten uns an Nichtiges, verlassen unsere Gnade? Der ausgespuckte Jona führt jedenfalls seinen Auftrag nun doch noch aus. Er geht nach Ninive und predigt gegen die große Stadt. Und sehr zu seinem Erstaunen ändern sich die Menschen wirklich. Zu Jonas Ärger ist die Lust am Untergang doch nicht so groß, wie er dachte. Wir Ausgespuckten, woran halten wir uns?
Amen
Kathrin Oxen
Von Kathrin Oxen
Kathrin Oxen, Moderatorin des Reformierten Bundes, gibt Ihnen auf reformiert-info.de jeden Sonntag Materialien für den Gottesdienst für Zuhause, dazu eine aktuelle Predigt.