Die stille Stube
Predigt zur Bachkantate BWV 80 'Ein feste Burg ist unser Gott'
Ein Waldweg, dann ein paar Stufen, ein gepflasterter Weg. Der Platz vor dem Burgtor, auf dem all diese Fotos gemacht werden mit der Burg im Hintergrund. Wir kaufen Eintrittskarten, zwei Erwachsene, ein Kind. Eingang 1 und Eingang 2, kleiner und großer Rundgang, bitte folgen sie den Schildern, bitte achten sie auf die Pfeile. Aus den Museumsräumen immer wieder erhebende Ausblicke in die hügelige Landschaft. Wir folgen den Pfeilen, aber wissen längst nicht mehr, wo wir sind. Noch eine Treppe, dann zweimal um die Ecke, dann sind wir da. Der Raum ist nicht sehr groß, die Wände aus Holzbohlen. An der Seite der Ofen, die Fenster ziemlich hoch gelegen und mit Butzenscheiben. Man müsste schon aufstehen und sie öffnen, um hinaussehen zu können. Ein Tisch und ein Stuhl, beide nicht original, wie es die Schilder beinahe entschuldigend erläutern. Und den Tintenfleck an der Wand erneuert auch niemand mehr. Original ist vermutlich der Walwirbel, der ihm als Fußstütze gedient haben soll, als er da über die Bücher und sein Manuskript gebeugt saß, fast ein Jahr lang, jeden Tag. Wir bleiben einen Moment. Natürlich sind wir nicht allein, aber alle die hineinkommen, machen es wie wir. Sie werden still. Denn hier war es. Hier hat er gearbeitet, geschlafen, gegessen, gebetet, vielleicht gesungen, während draußen die Bäume grün waren und bunt wurden und wieder kahl.
Die Burg. Die Wartburg. Es kann keine andere Burg sein als diese, an die Martin Luther gedacht hat, als er später den 46. Psalm übersetzt. Gott ist unsere Zuversicht und Stärke / eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. / Der Herr Zebaoth ist mit uns, / der Gott Jakobs ist unser Schutz.Ein feste Burg ist unser Gott / ein gute Wehr und Waffen.
Die Wartburg ist tatsächlich größer geworden über die Jahrhunderte. So trutzig, wie sie heute über Eisenach aufragt, ist sie überhaupt erst wieder seit gut 150 Jahren. 1817, zum Reformationsjubiläum, hatte man sich dort zum Wartburgfest getroffen. Da war die Burg eher eine Ruine. Einige Jahrzehnte später begann der Wiederaufbau ganz im Geschmack der Zeit, ein Umbau zur romantischen Märchenkulisse und zum Ort gesteigerten deutschnationalen Selbstbewusstseins. Der schlichte Raum mit den Wänden aus Holzbohlen, die stille Stube ist schwer zu finden in diesem Neuschwanstein der Reformation.
Und natürlich wurde auch das Lied dort auf der Wartburg gesungen, wo sonst. Das Lied, dem die leisen Töne abhandengekommen waren über die Jahrhunderte. Die ursprüngliche Melodie, rhythmisch abwechslungsreich, beinahe ein Tanz, bekam etwas Getragenes, Schweres, gut zum Marschieren Geeignetes. Wir da drinnen, bei Gott, in der Burg – ihr da draußen, die wir bekämpfen müssen, am besten mit einem Lied auf den Lippen, das uns Mut macht. Ein feste Burg ist unser Gott sei die „Marseillaise der Reformation“ hat Heinrich Heine 1834 gemeint. Nicht zufällig gürtet ein Mosaikband mit diesen Worten den Turm der anderen im 19. Jahrhundert wiederaufgebauten Ruine, der Wittenberger Schlosskirche.
Das Lied von der Burg gehört zu diesem Tag. Wir haben es gerade in der Kantate gehört. Das waren andere Töne. Eine Stimme hat widersprochen in dem Duett zu Anfang, sanft aber beharrlich. Alles, was von Gott geboren, / ist zum Siegen auserkoren, singt der Bass, männlich und heldenhaft. Und gegen diese Stimme die andere, die zartere, leisere. Die sich erinnert, ihn, uns: Mit unserer Macht ist nichts getan / wir sind gar bald verloren. Zwei Stimmen und eine Wahrheit. Die Spannung in einem Christen-, in einem Menschenleben, die keiner so genau beschrieben hat wie Martin Luther selbst: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Oder die Formel simul justus et peccator - der Christenmensch, gerecht und sündig zugleich. Zum Siegen auserkoren und zugleich bald verloren. Das sind alles nicht mehr unsere Worte heute, aber Stimmen, die sich widersprechen in mir, die höre ich manchmal auch. Ein ewiger Gesang in mir selbst. Ich bin nicht so oder so. Ich bin so und so. Und die Frage ist eher, welche Seite ich zeigen will nach außen: Eine trutzige Burg oder die stille Stube?
Mir kommt es so vor, als habe Martin Luther irgendwann die Tür zu der stillen Stube in sich selbst zugemacht. Vielleicht, weil er nicht mehr erinnert werden wollte an diese Zeit seines Lebens, an die Fragen und die Zweifel. War es richtig, was ich getan habe? Oder habe ich mich vielleicht doch geirrt? In der stillen Stube auf der Wartburg wird er sich die Frage oft gestellt haben. Später, wieder mittendrin in der Welt, hat er oft, zu oft eine trutzige Burg gezeigt, gegen die Andersgläubigen, die Bauern, die Türken, die Juden. Damit uns das nicht auch passiert, ist es gut für uns, auf beide Stimmen in uns zu hören, besonders auf die leise.
Lass nicht dein Herz / den Himmel Gottes auf der Erden / zur Wüste werden. Das singt die Stimme, die vorher so männlich und heldenhaft geklungen hat. Ich sehe und ich höre in diesen Tagen so viele Menschen, die in sich anscheinend eine Wüste haben statt ein Herz. Eine Wüste, in der die einfachen Antworten wohnen und in der nichts mehr wächst als Parolen. Menschen, die sich auf das christliche Abendland berufen und auf christliche Werte und am liebsten die Brücken hochziehen, die Mauern höher machen und Männer mit Waffen an die Grenzen stellen würden. Die feste Burg Deutschland, die feste Burg Europa Europa, gegen die Flüchtlinge und die Andersgläubigen. So einfache Lösungen gibt es nur um den Preis, dass in dir drin kein Herz mehr ist und nur eine Wüste bleibt.
Komm in mein Herzenshaus / Herr Jesu, mein Verlangen, singt die andere Stimme, die immer leise ist und zart. Die Stimme, mit der auch für Martin Luther einmal alles angefangen hat, in der Zelle im Kloster, in der stillen Stube auf der Wartburg, allein mit seinem Gott. Als er begriffen hat: Der Herr Zebaoth, der starke, mächtige, erschreckende Gott, zeigt sich uns in dem Menschen Jesus von Nazareth, der gelebt und gelitten hat, wie wir leben und leiden. Fragst du wer der ist? Er heißt Jesus Christ. Eine andere Seite des einen Gottes, der auch nicht so oder so ist, sondern immer so und so. Ein Gott, den wir fürchten und lieben sollen, wie es im Kleinen Katechismus heißt. Ich höre die andere Stimme, die leise, deutlich in der Musik von Johann Sebastian Bach. Zu seiner Zeit, im Jahrhundert nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg, hatte man für eine ganze Weile genug von Kriegsgeschrei und Schlachtengesang. Die Schlacht zwischen himmlischen und teuflischen Kräften wurde erst später mit schmetternden Trompeten musikalisch ausgestaltet. Der Bass, der starke Held, muss schweigen für den Rest der Kantate. Die leisen Stimmen übernehmen. Selbst die Rede von Christi blutgefärbter Fahne wird zart und leise vorgetragen. Denn der Sieger, von dem man singt, war so unfassbar machtlos. Jesus Christus war vor den Augen der Welt war er ein Verlierer, geschlagen, gedemütigt und ermordet. Und hat am Ende doch den größten Feind besiegt, den Tod.
Unser Glaube lebt davon, dass er nicht so oder so ist, sondern immer so und so. Das ist das Anstrengende am Evangelisch-Sein. Das ist nichts für Leute, die es gerne einfach haben. Wir kennen beides, die stille Stube voller Zweifel und Anfechtung und die trutzige Burg der Sicherheit und der Überzeugung. Unsere Freiheit besteht darin, dass beides zusammengehört und wir uns nicht für das eine oder andere entscheiden müssen. Wie selig sind doch die, die Gott im Munde tragen / Doch sel‘ger ist das Herz, das ihn im Glauben trägt. Wenn es laut wird um uns herum, wie jetzt in den bedrängenden Fragen unserer Zeit, dann ist es gut, auf die leise Stimme zu hören. Ist da eigentlich noch ein Herz in mir drin oder nur noch eine Wüste? Und manchmal wird es auch nötig sein, die trutzige Burg zu zeigen. Aber in der Burg gibt es die stille Stube. Lasst uns das nicht vergessen.
Amen.
Kathrin Oxen
Kathrin Oxen, Moderatorin des Reformierten Bundes, gibt Ihnen auf reformiert-info.de jeden Sonntag Materialien für den Gottesdienst für Zuhause, dazu eine aktuelle Predigt.