Unrecht benennen

Mittwochskolumne von Paul Oppenheim


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Nicht viele kennen Raphael Lemkin, der zehnmal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde. Er ist der Erfinder des Begriffs „Völkermord“.

Lange bevor er selber als Jude zum Verfolgten wurde, suchte der Jurist nach einem treffenden Wort, um die Vernichtung der christlichen Armenier im türkischen Reich zu bezeichnen. In den 1940er Jahren wandte er die rechtliche Definition und den Begriff des „Völkermords“ auf die Verbrechen der Nazis an.

Bei den Nürnberger Prozessen wurde zwar kein einziger Nazi-Kriegsverbrecher des Völkermordes überführt, doch gelang es im Jahr 1948 gewissermaßen als Lehre aus dem Holocaust, die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes einstimmig in der UNO zu verabschieden.

Mit dieser Konvention ist Völkermord zu einem juristischen Tatbestand des Völkerrechts geworden. Im Zusammenhang mit den massenhaften Tötungen in Ruanda und dem Massaker von Srebenica wurden Einzelpersonen des Völkermordes für schuldig befunden. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der erst seit 2002 seine Tätigkeit aufgenommen hat, sind etwa 65 Einzelpersonen angeklagt. Es handelt sich überwiegend um Angeklagte aus afrikanischen Ländern, sechs führende Politiker aus Russland und neuerdings auch Benjamin Netanjahu und Joaw Galant aus Israel, die des Völkermordes überführt werden sollen.

Der Begriff des Völkermordes ist ein juristischer Begriff. Es steht erst nach Abschluss eines Prozesses, nach der Anhörung von Zeugen und der Überprüfung von Beweismitteln fest, ob eine angeklagte Person tatsächlich für schuldig befunden und bestraft werden kann. Bevor dies geschieht, gilt die Unschuldsvermutung.

Das Vorgehen des israelischen Staates gegenüber der arabischen Bevölkerung in seinem Einflussbereich wird von pro-palästinensischen Aktivisten, etlichen Journalisten, Politikern, aber auch von Kirchen und NGOs immer häufiger als Völkermord bezeichnet. Mit der von Raphael Lemkin erarbeiteten völkerrechtlichen Definition hat das wenig zu tun und es geht auch nicht um die Anklage gegen einzelne Verantwortliche. Es wird vielmehr ein ganzer Staat, ein Volk oder gar eine Religionsgemeinschaft beschuldigt, ein abscheuliches Verbrechen zu begehen, nämlich die willentliche Auslöschung einer anderen Volksgruppe.

Diese ideologische Verwendung des Begriffs „Völkermord“ ist umso brisanter, als sie Juden unterstellt, das zu tun, was sie selbst erlitten haben. Indem man gegen Israel den Vorwurf des Völkermords erhebt, wird der Holocaust ebenso wie die Vertreibung der Juden aus sämtlichen arabischen Ländern relativiert. Dahinter steht die Frage: Verdienen „Völkermörder“, dass man dessen gedenkt, was ihnen angetan wurde?

Den Kirchen stünde es gut zu Gesicht, das ideologische Manöver zu entlarven, das mit dem Völkermord-Vorwurf einhergeht, und ohne die Verwendung dieses Begriffs, das Unrecht zu benennen, das benannt werden muss.


Details zum Leben von Raphael Lemkin und der Entwicklung des Begriffes „Genozid“ bzw. „Völkermord“ findet man im Werk des Juristen Philippe Sands, East West Street – On the Origins of Genocide and Crimes against Humanity, London, 2016 (Deutsche Übersetzung: Rückkehr nach Lemberg : über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit; eine persönliche Geschichte, Frankfurt a.M., 2018)


Paul Oppenheim