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Erfahrungen als Minderheitenkirche
D.Dr. Christoph Klein, Bischof der Evangelische Kirche A.B. in Rumänien
Meine Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!
Zwei Stichworte enthält das Thema, über das wir hier sprechen: „Erfahrung“ und „Minderheitskirche“. Somit möchte ich meine Ausführungen um diese beiden Begriffe kreisen lassen. Das bedeutet, in einem ersten Teil zunächst über „Minderheitskirche“ zu reflektieren und dann in einem zweiten Teil etwas von meinen „Erfahrungen“ zu diesem Thema zu berichten, wobei jeder der beiden Teile anhand von drei Thesen gegliedert sein sollen.
I. Minderheitskirche: drei Problemanzeigen
1. Minderheitskirche zu sein ist ein Schicksal, wir sagen als Christen besser ein „Geschick“. Es ist eine Situation, in die man hineingeboren wird, mit der man aufwächst oder die einen durch große geschichtliche Umbrüche überfällt. Das Letzte kann von unserer Kirche, der evangelischen Kirche A.B. (d.h. der lutherischen Kirche) in Rumänien gesagt werden. Sie hat in ihrer 850-jährigen Geschichte, vom 12. Jahrhundert bis heute viele Umbrüche erlebt. Von ihren Anfangsgründen an bis zur Zeit der Reformation und bis tief ins 18. Jahrhundert hinein war sie eine Mehrheitskirche, die so genannte „Kirche der Deutschen in Siebenbürgen“ oder „Kirche der Siebenbürger Sachsen“, oder „Kirche Gottes der sächsischen Nation“, wie sie in den alten Dokumenten hieß, und als welche sie bis heute bekannt ist. Eigentlich erst durch die beiden Weltkriege, zunächst allmählich und dann – nach dem II. Weltkrieg – fast schlagartig ist sie eine Minderheitskirche neben der orthodoxen, römisch-katholischen, reformierten, unitarischen und griechisch-katholischen Kirche geworden. Nach der Wende 1989 und der massiven Auswanderung der Deutschen aus Rumänien, zu dem Siebenbürgen seit 1918 gehört, ist sie in eine Minderheiten- und extreme Diasporasituation geraten.
Das ist ein Geschick, das man annehmen, akzeptieren und mit dem man versuchen muss, fertig zu werden. Für eine ehemals volkskirchlich strukturierte Kirche, wie sie es bis ins Jahr 1990 hinein war, ist das ein besonders schmerzlicher, ja bedrohlicher Prozess. Aber es gibt Analogien: die Situation der jungen Christenheit, so wie auch die Situation der Juden in der Diaspora. Und es ist die Situation vieler Kirchen, die durch geschichtliche Umbrüche, wie sie bei uns, aber auch durch Verfolgung oder – in der Zeit vor der Wende – durch kirchenfeindliche Politik und atheistische Ideologie entstanden ist. Daraus ergibt sich:
2. Die Minderheitskirche ist eine gefährdete Kirche. Sie leidet darunter, dass sie zahlenmäßig klein ist und ihr eine weitere Schrumpfung droht, so dass sie sich ständig die Frage nach ihrer Zukunft stellt. Sie steht in der Gefahr, sich zu isolierten oder isoliert zu werden und sie unterliegt dem „Gesetz der kleinen Gruppe“. Deren Probleme hat Horst Richter in seinem Buch „Die Gruppe“ beschrieben. Die kleine Gruppe ist nach ihm von der Gefahr bedroht, dass in ihr leichter Spannungen, Streitigkeiten und Identitätskrisen entstehen, die es zwar überall im menschlichen Zusammenleben gibt, die aber hier weniger verkraftet werden und sich verhängnisvoller und dramatischer auswirken. Darum braucht sie, um zu überleben, nicht nur Gleichberechtigung (etwa vor dem Gesetz), sondern „Sonderrechte“, Privilegien. Die haben zum Beispiel unsere Vorfahren, die Siebenbürger Sachsen, im Reich der (ungarischen) Stephanskrone eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Kolonisten, fern vom „Mutterland“ Deutschland schon im 13. Jahrhundert verbrieft bekommen. Und nur auf diese Weise konnten sie bis in die Gegenwart überleben, Rechte, die sie sich – wie andere Minderheitskirchen – von der jeweiligen Obrigkeit (dem ungarischen Reich, den Habsburgern und auch im heutigen Rumänien) immer neu erkämpfen mussten und in kleinerem oder größerem Maße auch erhalten haben. Ein wichtiges geschichtliches Beispiel dafür ist die Tatsache, dass die Diasporajuden, die sich im Römischen Reich niedergelassen hatten, solche Privilegien zugesprochen erhielten (z.B.: nicht vertrieben werden zu dürfen, Bethäuser und Friedhöfe zu besitzen, religiöse Bräuche auszuüben, ja selbst eine eigene Rechtspflege oder Freistellung vom Militär zu beanspruchen). Die jeweiligen Obrigkeiten waren auch an der Erhaltung der Minderheit interessiert, deren Bedeutung sie – wenn auch nicht durchwegs – anerkannten. Wo das nicht der Fall war (z.B. in der Zeit der kommunistischen Diktatur) hat sich das auch für das Staatsvolk negativ ausgewirkt.
3. Die Minderheitskirche wird leicht marginalisiert. Sie leidet nicht nur an der Tatsache ihrer geringen Größe sondern auch daran, dass sie von der Mehrheitskirche (den Mehrheitskirchen) bewusst oder unbewusst übersehen, an den Rand gewiesen wird, ja – unter Umständen – angefeindet wird. Sie genießt nicht die Aufmerksamkeit, die ihr gebührt und sie selbst erwartet. Und das oft, weil man von dieser Kirche einer Minderheit zu wenig weiß, sie falsch beurteilt oder unterschätzt. Dabei sind Minderheitskirchen umgekehrt eine Herausforderung als Vorbild an die großen Kirchen: Sie haben die Chance, ihren Mitgliedern Nestwärme zu geben, eine Familie zu werden, Zuflucht zu bieten, den Zusammenhalt mehr zu pflegen, weil sich ihre Gemeindeglieder kennen, sich näher stehen, für die Gemeinschaftspflege offener sind. Die so genannte Marginalisierung, die bis zur Wende in den kommunistischen Staaten von Osteuropa angestrebt wurde und die immer wieder in den 45 Jahren der Diktatur aufgetretenen Verfolgungswellen haben den Kirchen etwas gebracht, was man das „Kapital des Leidens“ nennen kann, das in der Situation der angestrebten Gettoisierung zu einer „geistlichen Kraft“ werden konnte. Das ist die andere Seite der „kleinen Gruppe“.
Vor dem Hintergrund dieser drei Probleme gibt es jedoch ganz bestimmte Erfahrungen, von denen wir hier die drei folgenden nennen wollen:
II. Drei Erfahrungen als Minderheitskirche
1. Nicht Fatum, sondern Datum. Unsere Erfahrung ist, dass wir das Schicksal, das Geschick das als Kirche in einer Minderheitssituation über uns gekommen ist, nicht als Fatum sondern als Datum, d.h. als von Gott gegeben und auferlegt deuten können. So wie das Kreuz Christi durch die Auferstehung seinen von Gott gewollten Sinn oder seine eigentliche Erfüllung erfährt, so kann es auch in der Minderheitskirche sein. Was menschlich als Verhängnis oder gar Fluch aussieht – wie der Verbrechertod Jesu am Kreuz – muss angenommen werden als der Weg, den Gott uns führt. Und das bedeutet: damit geschieht etwas von der Welt Gottes her, das wir aus eigenem Antrieb nie zustande bringen würden. Die Erfahrung, die wir in dieser Situation gemacht haben ist, dass unsere Kirche, die bisher in sich geschlossen war und sich, wie eine befestigte „Kirchenburg“ (das war bei uns ein Symbol für Kirche überhaupt) abgegrenzt hat, die Öffnung nach außen gelernt hat: die Öffnung für andere Christen, andere Glaubensweisen und Traditionen, andere Sprachen und Kulturen. Die konfessionell klar definierte Volkskirche fürchtet leicht um ihre Identität und darum, dass sie ihre Verwurzelung in der Geschichte und kirchlichen Wesensart verliert. So war es schon bei den Jüngern Jesu, die – nach Johannes 20,19 – ihre Türen versperrten „aus Furcht vor den Juden“, so dass sie Jesu aufbrechen musste, um eintreten zu können, angenommen und erkannt zu werden. Unsere Erfahrung ist: Der Einbruch durch die verschlossenen Türen und Tore unserer Kirche, so schmerzlich das ist, bringt einen großen Zuwachs an Einsichten, Hilfe und Trost steigert die Kraft, Kirche neu zu verstehen, aber auch neu zu strukturieren und umzugestalten. Diese Hilfe kann sehr konkret werden, wenn den wenig verbliebenen Evangelischen in einer Gemeinde nur noch Anderskonfessionelle und Anderssprachige beistehen (Rumänen, Ungarn, Roma), zum Beispiel bei der Gestaltung der Feste aber auch bei Begleitung im Alter und Sterben und den Beerdigungen und in anderen Notsituationen.
2. Nicht Manko, sondern Chance. Das ist eine zweite Erfahrung, die beflügelt. Die wenigen können viel bewirken und darin Motivation und einen ungeahnten Kräftezuwachs erleben. Die großen Kirchen leben von ihrer Zahl, die Minderheitskirche lebt von ihrem Gewicht („Christen werden nicht gezählt sondern gewogen“). Was alles von unserer jäh klein gewordenen Kirche ausgegangen ist, hat viele in Erstaunen versetzt. Die diakonische Tätigkeit, der Religionsunterricht in den Schulen, unsere Frauen- und Jugendarbeit, die ökumenische Gestaltung von Gottesdiensten (Weltgebetstag, Gebetswoche für die Einheit der Christen u.a.), die theologische Forschung, der interkonfessionelle Dialog mit seiner Vermittlung zwischen Theologien und Kirchen unterschiedlicher Ausprägung – das alles ist seit Jahren eine Art von Vorreiterrolle. Solche Tätigkeiten haben wir bei den anderen Kirchen häufig angestoßen und Nachahmung und Akzeptanz gefunden. Wir, die kleine, kleinste von den historischen Kirche unseres Landes hat inzwischen eine bedeutende Funktion in der zivilen Gesellschaft, und die deutsche Minderheit hat in Hermannstadt (Sibiu, woher wir kommen) wie in anderen Städten und Gemeinden Bürgermeister gestellt und eine zum Teil überwiegende Mehrheit im Stadt- und Kreisrat. Unser Bürgermeister Klaus Werner Johannis wurde bei den letzten Wahlen als Premierministerkandidat von allen oppositionellen Parteien gehandelt – das ist einmalig in unserer Geschichte.
3. Am Rand – aber auf der Grenze. Gewiss stehen Minderheitskirchen nicht im Mittelpunkt, das wollen sie auch nicht und das steht keiner Kirche gut. Aber unsere Erfahrung ist: die kleine Kirche hat ihren Platz „auf der Grenze“ gefunden, einen Platz, den sie sich nicht gesucht, sondern der ihr von den anderen zugewiesen und zugemutet wird. „Auf der Grenze“ ist – nach Paul Tillich – „der fruchtbarste Ort der Erkenntnis“, aber nicht nur der Erkenntnis. Dies kann auch für eine Kirche gelten, auch für unsere Kirche: sie steht auf der Grenze zwischen Kirchen und Konfessionen, zwischen Sprachen und Kulturen, zwischen theologischen und ökumenischen Konzepten. Das ist in einer Zeit so vieler Konflikte, Spannungen und Kontroversen eine große Rolle und stellt sie vor die wichtige Aufgabe einer Brückenfunktion und eines immer wieder notwendigen Katalysators. Ihr Standort als eine Kirche zwischen West und Ost, mit einer westlich geprägten Theologie und einer Kirche, die durch Reformation und Aufklärung hindurchgegangen ist bedeutet für das Gespräch mit der orthodoxen Kirche, die eine andere kirchliche und theologische Entwicklung genommen hat, ein beidseitiger Gewinn. In diesem Sinne werden wir in die Situation versetzt, „Kirche für andere“ zu sein, aber auch immer als „Kirche mit anderen“ und „von anderen her“. Es ist ein Geben und ein Nehmen, nicht nur in der Bewältigung von Problemen, sondern auch dort, wo es um Sinnfindung, um das Ringen um ethische Fragen und um Erneuerung geht. Der Ort „auf der Grenze“ hat die Funktion „zwischen östlicher Weisheit“ und „westlichem Wissen“ zu vermitteln und für beide fruchtbar zu machen. Diese durch die Traditionen eines Jahrhunderte langen Zusammenlebens zugewiesene Aufgabe hat dazu geführt, dass wir Gastgeber der 3. Europäischen Ökumenischen Versammlung 2007 sein konnten, in dem Jahr, da wir – zusammen mit Luxemburg – Europäische Kulturhauptstadt waren, dem Jahr auch, da wir der EU beitreten konnten. Das gemeinsame Haus Europa, in dem wir jetzt wohnen, ermöglicht weiteren Austausch von Erfahrungen, wie an diesem ökumenischen Kirchentag in München.
Und das, damit wir – wie ihr – „Hoffnung haben“.
Schlussfolgerungen
Es geht
1. um das Kultivieren eines gewissen Selbstbewusstseins als Minderheitskirchen mit der Chance, für „Öffnung“ zu stehen und vorzuleben, wie wichtig es ist, „Kirche für andere“, „mit anderen“ und „von anderen her“ zu sein. Die Minderheitskirche lebt von einer großen biblischen Verheißung, wie sie im AT und NT verankert ist und wie die Geschichte der Christenheit beweist. Das soll auch in unserer Gegenwart gelten.
2. um das Entwickeln einer „Theologie der Minderheits- oder Diasporakirche“, die einen ebenbürtigen Platz neben anderen „Theologien“ beanspruchen darf. Dazu gehört, die Bibel „diasporabewusst“ zu lesen: so wie die Bibel feministisch, diakonisch oder von der Befreiungstheologie her kommend gelesen und ausgelegt werden kann. Das heißt, dass man sie auch mit den Augen eines Menschen lesen sollte, der in einer Minderheitskirche lebt und versucht, sie als solche sprechen zu lassen. Man wird existentiell neue Erkenntnisse gewinnen, die hilfreich auch für andere sind.
3. um das Entdecken der Rolle der Minderheitskirche in der ökumenischen Zusammenarbeit als Vermittlerin und Brückenbauer zwischen unterschiedlichen Positionen in Kirche, Theologie und Gesellschaft. Der Standort „auf der Grenze“ soll fruchtbar werden für die Kirche Jesu Christi in ihrer Besinnung nach Erneuerung und Klärung ihrer Aufgabe in dieser Welt. Und das in dem Erscheinungsbild der vielen Kirchen, aber von Kirchen „in versöhnter Verschiedenheit“.
D.Dr. Christoph Klein, Bischof der Evangelische Kirche A.B. in Rumänien
Wie ein Rad, das nicht rund läuft, ist die Ökumene für Minderheitenkirchen in Europa oftmals in der "Unwucht". Das wurde beim Podium "Europäische Ökumene in der Unwucht" beim 2. Ökumenischen Kirchentag deutlich.