Liebe Gemeinde,
Der Predigttext steht im Alten Testament, im Buch „Der Prediger“. Der Text, der da steht, klingt schon selbst wie eine Predigt:
1Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat! Denk an ihn in deiner Jugend, bevor die Tage kommen, die so beschwerlich sind! Denn wenn du alt geworden bist, kommen die Jahre, die dir gar nicht gefallen werden. 2Dann wird sich die Sonne verfinstern, das Licht von Mond und Sternen schwinden. Dann werden die dunklen Wolken aufziehen, wie sie nach jedem Regen wiederkehren. 3Wenn der Mensch alt geworden ist, zittern die Wächter des Hauses und krümmen sich wie die starken Männer. Die Müllerinnen stellen die Arbeit ein, weil nur noch wenige übrig geblieben sind. Die Frauen, die durch die Fenster schauen, erkennen nur noch dunkle Schatten. 4Die beiden Türen, die zur Straße führen, werden auch schon geschlossen. Und das Geräusch der Mühle wird leiser, bis es in Vogelgezwitscher übergeht und der Gesang bald ganz verstummt. 5Wenn der Weg ansteigt, fürchtet man sich. Jedes Hindernis unterwegs bereitet Schrecken. Wenn schließlich ein Mandelbaum blüht, die Heuschrecke sich hinschleppt und die Frucht der Kaper aufplatzt: Dann geht der Mensch in sein ewiges Haus, und auf der Straße stimmt man die Totenklage an. 6Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat, bevor die silberne Schnur zerreißt und die goldene Schale zerbricht – bevor der Krug am Brunnen zerschellt und das Schöpfrad in den Schacht stürzt. 7Dann kehrt der Staub zur Erde zurück, aus dem der Mensch gemacht ist. Und der Lebensatem kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat. [BasisBibel]
[1. Die Tage, die nicht mehr gefallen]
Was ist das für ein Prediger? Er scheint sich auszukennen mit dem Alter. Du wirst zittrig und krumm. Die Augen lassen nach, du hörst schlechter. Zähne fallen plötzlich aus. Die Stimme krächzt und das Singen geht nicht mehr so recht. Dein ganzes Leben wird etwas mühsam. Du musst aufpassen, dass du dir nicht zu viel vornimmst und deine Kräfte einteilen. Mich wundert, dass der Prediger nicht auch noch etwas zur Vergesslichkeit schreibt. Mir gefällt das. Denn da ist erst mal nichts von Verdrängung, sondern der Prediger beschreibt, was ist. Was uns erwartet, wenn wir älter werden und alt werden und betagt, vielleicht hoch betagt. Es ist ein ehrlicher, nüchterner Blick. Besser als die alten Herren, die sich mit einer jungen Frau die Jugend selbst an die Seite holen müssen. Besser als die alten Damen, die sich die Haare blondieren und von hinten aussehen als seien sie 40. Besser als die Zahnärzte-Werbung, die Implantate bewirbt und ewige Jugend verspricht. Der ehrliche, nüchterne Blick auf’s Alter und auf’s Altwerden – dass das in der Bibel steht, finde ich gut. Weil: Das ist Lebensweisheit und Klugheit. Wohl dem, der sich mit seinem Altwerden arrangiert und hinguckt und die eigene Hinfälligkeit und Hilfsbedürftigkeit anerkennt.
[2. An die Jugend]
So weit so gut. Das könnte auch in Ratgeberliteratur und müsste nicht in der Bibel stehen. Es ist aber auch nicht alles, was der Predigttext zu bieten hat. Drei Mal kommt im Text eine direkte Anrede vor. Sie ist immer gleich: „Denk an deinen Gott…“
Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat!
Denk an ihn in deiner Jugend, bevor die Tage kommen, die so beschwerlich sind!
Und am Ende: Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat, bevor die silberne Schnur zerreißt und die goldene Schale zerbricht – bevor der Krug am Brunnen zerschellt und das Schöpfrad in den Schacht stürzt.
Das ist der Rat des Predigers. Denk an deinen Gott. Und zwar nicht im Alter, wenn dir die Tage nicht mehr gefallen. Sondern in der Jugend. Bevor diese Tage kommen. Die Schüler dieses Predigers waren junge Menschen, die auf diese Weise belehrt wurden. Warum mussten diese jungen Menschen so belehrt werden? Einerseits vielleicht, weil sie belehrt werden wollten. Weil Bildung und Lehre im 3. Jh. vor Christus, die Zeit, in der das Buch „Der Prediger“ entstand, eine Zeit von kultureller und wirtschaftlicher Blüte war. Bildung gehörte dazu. Andererseits ist es natürlich etwas Typisches für die Jugend, dass sie ihr Leben genießt, dass sie feiert, dass sie ganz im Hier und Jetzt lebt.
Erinnern Sie sich noch an die eine Tagesschau-Nachricht aus der Corona-Zeit, wo eine junge Frau gefragt wurde, was sie über bevorstehende Ausgangssperren denke? Und diese junge Frau empört in die Kamera schaute und im Brustton tiefster Überzeugung sagte: Was glauben die eigentlich, was ich am Freitag Abend machen will, wenn ich von Montag bis Freitag gearbeitet habe?
Man kann dazu sagen, dass die Wirklichkeitswahrnehmung dieser jungen Frau irgendwie gestört war. Sieht sie denn nicht, in welchen Zeiten es um Ausgangssperren geht? Merkt sie denn nicht, dass es gar nicht darum geht, ihr den Freitag Abend zu vermiesen? Man kann ebenso sagen: So sind sie. Sie verlieren sich manchmal im Flow des Lebens. Gucken nicht links und nicht rechts. Und denken nicht daran, wo sie herkommen und hingehen. Denken nicht daran, dass ihr Leben ein Ziel hat (Ps 39). Und dass es Gott ist, der sie geschaffen hat. Der Prediger sagt seinen jungen Schülern: Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat. Denk an ihn jetzt, in deiner Jugend. Wenn deine Tage noch gut sind. Und du dich lebendig und wohl fühlst.
[3. An die Alten]
Der Dichter Czesław Miłosz (sprich: tscheß-whaw mi-whosch) hat im Alter von 86 noch einen Gedichtband veröffentlicht. Und unter der Überschrift „Die Alten“ heißt es da:
Der Anblick alter und hässlicher Männer und Frauen,
besonders, wenn sie auf einen Stock gestützt dahinschlurfen.
Ihr Körper hat sie alle verraten,
alle, die einmal schön waren
und die einst so leichtfüßig tanzen konnten.
Doch in jedem von ihnen glüht noch
ein Funke des Bewusstseins,
so dass sie sich verwundert fragen: „Bin ich das wirklich?
Aber das kann doch gar nicht wahr sein!“1
Miłosz ist 1911 in Litauen geboren, wurde katholisch getauft; als er 9 war, wurde seine Heimat von Polen annektiert, mit 50 wurde er in den USA Professor für Literatur, mit 69 erhielt er den Literatur-Nobelpreis. 2004 starb er 93-jährig in Krakau. Er bezeichnete sich als Humanisten und er schickte dem Papst zu dessen 80. ein Gedicht. Ein Gläubiger? Ein Ungläubiger? Ein Litauer? Ein Pole? Oder ein Amerikaner?
„Bin ich das wirklich?“ – In dieser verwundert gestellten Frage steckt die Frage nach dem, was mein Leben zusammenhält. Zwischen dem leichtfüßigen Tanzen und dem Dahinschlurfen. In den Tagen, die mir nicht mehr gefallen, hängt nämlich etwas davon ab, wie ich mir mein Leben gedacht hatte, als mir meine Tage besser gefielen.
4. [Vergiss es nie]
Die Antwort des Predigers wäre: Dein Leben wird von Gott zusammengehalten. Von deinem Gott. Der dich, nicht als Teil der Gattung Mensch, sondern dich als Einzelnen geschaffen hat. Und zu dem du zurückkehrst. Bin ich das wirklich? Ja, das bist du wirklich. Das kannst du denken, wenn du dich erinnern kannst an deine guten Tage. Und dich erinnern kannst, dass du gedacht hast: Ich bin nicht nur Kind meiner Zeit, Kind meiner Eltern. Ich bin von Gott geschaffen!
Meine Schülerinnen und Schüler haben dieses Lied am liebsten gesungen:
Vergiss es nie:
Dass du lebst war keine eigene Idee,
und dass du atmest,
kein Entschluss von dir.
Vergiss es nie:
Dass du lebst, war eines anderen Idee,
und dass du atmest,
sein Geschenk an dich.2
Ich glaube, sie mochten die Idee, kein „Kind des Zufalls“ zu sein, sondern dass sie genauso, wie sie sind, gewollt waren. Ich finde, daran kann man immer erinnern lassen. Nicht nur in der Jugend.
Die eigene Lebenszeit ist dann kein Leben zum Tode hin, sondern eine geschenkte Zeit, die einen Anfang und ein Ende hat wie alle menschliche Zeit. Und die ich nutzen und genießen soll. Schau, was ich in Erfahrung gebracht habe, schreibt der Prediger in einem anderen Kapitel: Es ist ein echtes Glück, zu essen, zu trinken und das Leben zu genießen. Das ist der Ausgleich für die ganze Arbeit, mit der sich der Mensch unter der Sonne abmüht. Das bleibt ihm in der kurzen Zeit seines Lebens, das Gott ihm geschenkt hat. Ja, das ist sein Anteil! (Pred 5,17)
Amen.
1 Czesław Miłosz: Hündchen am Wegesrand. München/Wien: Carl Hanser Verlag 2000, S. 24
2 Text und Melodie Paul Janz 1977. Deutsch: Jürgen Werth 1978. Abgedruckt in „freitöne“ Nr. 61