Den Reinen ist alles rein

Predigt zu Matthäus 15, 1-16, am 21. Sonntag nach Trinitatis

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Von Stephan Schaar

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! AMEN.

Wenn wir eines gelernt haben aus der Corona-Pandemie, und zwar Alt und Jung gleichermaßen, dann, liebe Gemeinde, doch wohl dies: Hygiene ist eine unerlässliche Vorsichtsmaßnahme.

Und dann schlagen wir die Bibel auf - an einer Stelle, die sonst nicht zur Auslegung vorgesehen ist - und lesen bei Matthäus im 15. Kapitel:

15 1Einige Pharisäer und Schriftgelehrte aus Jerusalem kamen zu Jesus und sagten: 2»Warum missachten deine Jünger die Vorschriften, die uns von den Vorfahren her überliefert sind? Zum Beispiel waschen sie sich vor dem Essen nicht die Hände.« 3Jesus entgegnete ihnen: »Und ihr, warum missachtet ihr Gottes Gebot euren Vorschriften zuliebe? 4Gott hat zum Beispiel gesagt: ›Ehre Vater und Mutter!‹ und: ›Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tod bestraft werden.‹ 5Ihr dagegen lehrt, man könne zu seinem Vater oder zu seiner Mutter sagen: ›Alles, was dir eigentlich von mir als Unterstützung zusteht, erkläre ich zur Opfergabe‹; 6dann brauche man seine Eltern nicht mehr zu unterstützen. Damit habt ihr euren eigenen Vorschriften zuliebe das Wort Gottes außer Kraft gesetzt. 7Ihr Heuchler! Was Jesaja prophezeit hat, trifft genau auf euch zu:
8›Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit von mir entfernt. 9Ihr ganzer Gottesdienst ist wertlos, denn ihre Lehren sind nichts als Gebote von Menschen.‹«10Dann rief Jesus die Menge zu sich und sagte: »Hört zu, damit ihr versteht, was ich sage! 11Nicht das, was der Mensch durch den Mund in sich aufnimmt, macht ihn in Gottes Augen unrein. Unrein machen ihn vielmehr die Worte, die aus seinem Mund herauskommen.«
12Daraufhin kamen die Jünger zu Jesus und sagten: »Weißt du, dass die Pharisäer an diesem Wort Anstoß genommen haben?« 13Er antwortete: »Jede Pflanze, die nicht mein Vater im Himmel gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. 14Lasst sie! Sie sind blinde Blindenführer, und wenn ein Blinder einen Blinden führt, fallen beide in die Grube.«
15Da bat ihn Petrus: »Erkläre uns jenen Ausspruch über das, was unrein macht!« – 16»Habt auch ihr noch immer nichts begriffen?«, erwiderte Jesus. 17»Versteht ihr denn nicht, daß alles, was man durch den Mund in sich aufnimmt, in den Magen gelangt und dann wieder ausgeschieden wird? 18Was jedoch aus dem Mund herauskommt, kommt aus dem Herzen, und diese Dinge sind es, die den Menschen unrein machen. 19Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Aussagen, Verleumdungen. 20Das ist es, was den Menschen in Gottes Augen unrein macht; aber mit ungewaschenen Händen essen macht ihn nicht unrein.«

“Hände waschen nicht vergessen!” - das war in meiner Kindheit ein Mantra, das - um ihm die Schärfe zu nehmen und es gleichzeitig vor Abnutzung zu schützen - zuweilen von meinem Vater mit einem Singsang vorgetragen wurde. Es ist mir so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich in der Reha mühsam lernen musste, dass es davon auch ein Zuviel geben kann, das man sich der Haut wegen tunlichst abgewöhnen sollte.

“Hände waschen nicht vergessen!” Ganz schöne Ferkel, nicht wahr - Jesus und seine Jünger?! Aber halt: Um das Händewaschen als Hygienemaßnahme geht es in dem eben gehörten Konflikt ja gar nicht, sondern um ein religiöses Ritual. Wie so oft entbrennt zwischen den Hütern der Tradition und Jesus ein Streit über die Frage, wer hier die Deutungshoheit hat: Bestimmt der Buchstabe des Gesetzes oder - nur locker daran angelehnt - eine ganz bestimmte mündliche Auslegungstradition, wie man sich zu verhalten hat? Oder gilt auch hier: “Das Gesetz ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Gesetzes willen.”

Beim früheren Bundeskanzler Kohl hörte man ja öfter den Ausspruch, wichtig sei, “was hinten rauskommt”. Dem widerspricht Jesus mit aller Entschiedenheit und pocht darauf, dass es darauf ankomme, was vorn herauskommt - nämlich an Worten. Genauer: An dem, was Menschen sagen, kann man erkennen, wie sie denken - selbst wenn sie es mit geschickter Rhetorik zu verbergen suchen. Denn was einem so oder so über die Lippen kommt, das kommt letzten Endes von Herzen - wobei das Herz im biblischen Denken das Denkzentrum ist und nicht der Ort, an dem die Gefühle wohnen oder entstehen.

In einer Woche begehen wir den Reformationsgedenktag. Da geht es nicht um die Gründung der Evangelischen Kirche - das war, wie wir wissen, nicht Luthers Absicht -, sondern um den Beginn einer Rückbesinnung auf die ursprüngliche Botschaft des Evangeliums, die unverfälschte Gute Nachricht von der Liebe Gottes. Was war damit geschehen? Sie lag verschüttet unter einem Haufen Tradition, der sich angesammelt hatte wie Treibholz am Ufer, das den Blick verstellt, so dass man kaum noch erkennen kann, wo das Land endet und das Wasser beginnt.

In anderthalb Jahrtausenden hatte man den Buchstaben der Bibel immer weniger Bedeutung beigemessen, zumal ohnehin nur eine Minderheit der Menschen des Lesens kundig war. Die Schriftgelehrten des Mittelalters und ihre halbgebildeten Helfer im Priestergewand versuchten, so gut sie es vermochten, die christliche Tradition - gemäß ihrem Verständnis - zu wahren. Dazu gehörten im Laufe der Zeit immer mehr äußere Merkmale - die wir als Protestanten in so radikaler Weise abgeschafft haben, dass es mir scheint, wir hätten das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Aber immerhin: Es ging um das Kind, und das drohte damals im Badewasser zu ersaufen. Deshalb musste etwas geschehen.

Jesus begegnet den Pharisäern, die auf Äußerlichkeiten achten, wie seinerzeit später die Zürcher Reformationsgesinnten dem Bischof von Konstanz, der das Verzehren von Wurst während der Fastenzeit partout nicht hinnehmen wollte; aber er war machtlos, den Tabubruch zu verhindern.

Zwingli selbst aß wohl nicht mit, aber er bezeugte den Vorgang und beschrieb ihn in einer Predigt als Praxis der Freiheit - nicht etwa gegenüber den Geboten Gottes, sondern den Satzungen einer Kirche, die in ihrer Selbstgerechtigkeit weder unterscheiden wollte noch konnte, welche Bestimmung auf Gottes Wort zurückzuführen ist und was andererseits lediglich ersonnen wurde, um die Gläubigen zu reglementieren.

Und wenn es nicht darum ging, Vorschriften zu erlassen, um das Volk besser kontrollieren zu können (wie das ja auch im Islam sehr erfolgreich eingeführt wurde mit der Verpflichtung, fünfmal am Tag das öffentliche Leben zu unterbrechen, um beten zu gehen), dann verfolgte die Religionsmafia das Interesse, sich selbst von bestimmten Verpflichtungen per Definition auszunehmen, meist um ein privilegiertes Leben zu rechtfertigen.

Die Klosterbrüder waren auch recht erfinderisch darin, verbotene Speisen in erlaubte umzudeuten - etwa den Otter zu einem Fisch zu erklären, den man auch während der 40tägigen Fastenzeit verzehren durfte; mitunter befand man sogar, dass ein in den Teich gefallenes Schwein darin ja schwimmt und also zu jenen Tieren zu zählen sei, die vom Fastengebot ausgenommen sind. Was war nun das Problem der Schriftgelehrten und Pharisäer, die sich offenbar ihrer Machtposition so sicher waren, dass sie es wagen konnten, Jesus und die Jünger anzuprangern?

Wie im Mittelalter- zu unserer Freude über erhabene Kirchenkunst, die wir heute bestaunen können - gern Bilder gestiftet wurden zur Ehre Gottes und vor allem zum Ruhm der edlen Spender, statt dass, wie eigentlich vorgeschrieben, die reichen Leute dafür sorgten, die armen Gemeindeglieder zu unterstützen (eine Unsitte, die in der Schweiz umgehend abgeschafft wurde, als die Reformation sich durchsetzte), so haben sich zu Jesu Zeiten die Geizigen um die Verpflichtung gedrückt, die alten Eltern zu versorgen, indem sie das Vermögen - pro forma - dem Tempel widmeten nach dem Motto: “Vergelt’s euch Gott, was ich euch jetzt leider vorenthalten muss!”

Das ist ungefähr so, als ob heute jemand dem Vater oder der Mutter erklärte: “Ich würde dich ja gern regelmäßig im Pflegeheim besuchen; aber du weißt doch: als Kirchenältester muß ich sonntags am Gottesdienst teilnehmen, mal den Lektorendienst wahrnehmen, mal den Kirchdienst versehen - da bleibt leider keine Zeit für private Angelegenheiten!”

Und dies nur als ein Beispiel, auf das zitierte Elterngebot bezogen. Natürlich klingt das ganz anders, als wenn man schlicht sagt: “Ich habe keine Zeit für dich.” Oder, noch offener egoistisch formuliert: “Ich schufte die ganze Woche. Am Wochenende brauche ich die Zeit, um mich von den Strapazen des Arbeitslebens zu erholen. Und ein eigenes Familienleben habe ich schließlich auch noch!” Oder man führt den Sport an, gesellschaftliche Verpflichtungen, die Pflege von Freundschaften oder oder oder. Aber mit einem ehrenamtlichen Engagement, womöglich im kirchlich-sozialen Bereich, ist die Verabschiedung von gottgewollten Loyalitäten noch viel wohlklingender zu begründen.

Jesus sagt dazu, indem er den Propheten Jesaja aufruft: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit von mir entfernt. Ihr ganzer Gottesdienst ist wertlos, denn ihre Lehren sind nichts als Gebote von Menschen.‹ Da hätten die Pharisäer und Schriftgelehrten wohl doch besser ihren Mund gehalten! Wer mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf andere Leute zielt, zeigt mit gleich drei Fingern auf sich selbst: Wasser predigen und Wein saufen? - Das geht ja mal gar nicht!!

Den Reinen ist alles rein, schreibt Paulus im Brief an Titus. Das wäre aber missverstanden, wenn man darin eine Generalerlaubnis sähe für ein Verhalten, das sich jeglicher ethischer Verpflichtung enthoben glaubt. Wenn wir mit dem Anspruch auftreten, in der Nachfolge Jesu Christi zu leben, werden wir zu recht jede Gesetzlichkeit zurückweisen, die uns unfrei machen will und nichts anderes zum Ziel hat, als zu kontrollieren und Macht auszuüben.

Aber wir setzten uns selber ins Unrecht, wenn es in unserem Tun und Lassen nicht mehr um  Gottes Wort und Willen ginge, sondern lediglich darum, zu tun, was uns gerade gefällt. Weil wir mit dem Anspruch auftreten, als Christenmenschen anderen ein Zeugnis zu geben - denn an unseren Taten werden wir gemessen und nicht an wohlfeilen Worten -, bleibt es ohne jede Ausrede bei der Verpflichtung, in jedem unserer Lebensvollzüge das Doppelgebot der Liebe in die Tat umzusetzen.

Und solange das zur Eindämmung der Pandemie ratsam ist, waschen wir uns weiterhin fleißig die Hände.

(Amen.)


Stephan Schaar