Von Schwertern und Herzen

Predigt zu Hebr 4,12-13 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 20. Februar 2022 (Sexagesimä)

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Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,

von Gottes Wort ist im heutigen Predigttext die Rede. Sie werden es vielleicht wiedererkennen: das Motto des Kölner Kirchentages von 2007:

12Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer
als jedes zweischneidige Schwert
und dringt durch, bis es scheidet
Seele und Geist, auch Mark und Bein,
und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
13Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen,
sondern es ist alles bloß und aufgedeckt
vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

Erinnern Sie sich? Die drei Eigenschaftswörter waren das Kirchentagsmotto 2007 in Köln: „lebendig und kräftig und schärfer“. Ein Text aus dem 4. Kapitel des Hebräerbriefes. „Lebendig und kräftig und schärfer“. Eine Werbeagentur hat dazu dem Christenfisch eine kleine Haifischflosse auf den Rücken gezeichnet.

[1. Geht es um Waffen?]

Sollen wir Christen Haifische sein oder werden? Oder ist Christus der Fisch? Der Haifisch hat Zähne, die verletzen können – das Wort Gottes, das schärfer ist als jedes zweischneidige Schwert, kann auch verletzen. Ein zweischneidiges Schwert ist eine besonders effektive Waffe im Kampf. Geht es also um Waffen?

Ja. Nur, dass die Waffe nicht gegen andere gerichtet ist, sondern gegen mich selbst. Es geht hier auch nicht darum, dass ich lebendig sein soll und energisch und kräftig meine Stimme erheben soll gegen all das Unrecht in der Welt. Dass ich diejenige bin, die Gottes Wort „lebendig, kräftig, scharf“ in die Welt hinaus erschallen lässt. Es geht nicht um andere, sondern um mich. Um mich als Christenmensch. Um meine Selbsterkenntnis, um ein Wort, das mich trifft.

Das Wort Gottes ist schärfer als jedes zweischneidige Schwert, es ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Es geht um dich und mich. Es geht um nichts Geringeres als das Gericht. Der Verfasser des Hebräerbriefes sieht es schon im Anmarsch. Seiner Ansicht nach war nicht mehr viel Zeit.

[2. Herzenshärten]

Deshalb kommt es jetzt ganz unbedingt darauf an, sich dem Wort Gottes zu öffnen. Nicht mein Herz und meine Sinne zu verschließen, nicht hartleibig zu sein. Wolf Biermann sang einst (1968): „Du, lass dich nicht verhärten
        in dieser harten Zeit.
        Die allzu hart sind, brechen,
        die allzu spitz sind, stechen
        und brechen ab sogleich.“
Gott sieht unser Herz an und weiß, was wir im Innersten wollen, wonach wir unsere Entscheidungen ausrichten. Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern alles ist bloß und aufgedeckt. Nichts lässt sich zudecken, nichts unter den Teppich kehren. Kein Schwamm drüber!
Die Herzenshärte ist der Gegenpart zum Wort Gottes. Und dies Herzenshärte wird vom Wort Gottes durchdrungen, wie von einem zweischneidigen Schwert.

Wie dringlich ist das, dass das Wort Gottes nicht abprallt an einem verhärteten Herzen! Das steht vor dem Predigttext. Ein Wort aus Psalm 95. Drei Mal wird das Wort aus Psalm 95 wiederholt, damit man es ja nicht vergisst.1 Heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verstockt eure Herzen nicht.

Verstockte, verhärtete Herzen. So soll es nicht sein. Aber wie soll es dann sein? Beweglich-Sein und ein Herz haben, das sich anrühren lässt. Einen Sinn, der nicht auf feste Regeln und Dogmatik abhebt, sondern fünfe gerade sein lassen kann. Und zwar gegenüber Gottes Wort. Es soll mich anrühren. Ich soll nicht sagen: „Ah, das kann so gar nicht sein. Denn da und da, da steht es anders.“ Ich soll aushalten, dass es manchmal so ist und manchmal so.

Denn Gottes Wort ist vielfältig. Manchmal sogar widersprüchlich. Ein paar Beispiele: Es gibt vier Evangelien. Nur Markus erzählt, dass alle Jünger nach der Kreuzigung flohen. Es gibt auch zwei Schöpfungserzählungen. Völlig unterschiedlich konstruiert: die eine folgt einem Sieben-Tage-Schema. Die andere erzählt vom Paradiesgarten.

Selbst bei der Verstockung der Herzen gibt es Widersprüche: In Psalm 95 klingt es so, als würden wir selbst unsere Herzen verhärten oder nicht verhärten können: Verstockt eure Herzen nicht. An anderen Stellen ist es Gott, der die Herzen verstockt [Röm 9,18] und dereinst ein neues Herz schenkt, das nicht aus Stein ist, sondern lebendig wie Gott selbst [Ez 36,26].

Gottes Wort ist vielfältig. Er ist nicht berechenbar. Gott ist Gott.
Was soll man da machen?

Anerkennen, dass Gott nicht der Verfasser einer Kirchlichen Dogmatik ist, sondern Gott. Gott, den du zwar nicht berechnen kannst. Auf den du aber vertrauen kannst. Er kennt und liebt dich, bevor du noch geboren warst. So steht es im Buch des Propheten Jeremia [Jer 1,5]. Du kannst dich auf die Widersprüchlichkeiten einlassen, indem du ihm vertraust, dass er es gut meint mit dir. Und indem du auf Jesus Christus vertraust, der „das eine Wort Gottes ist“, wie es in der Barmer Erklärung heißt, die wir in der Lesung gehört haben.

Ein Herz, das sich anrühren lässt, von diesem Wort Gottes, das brauchst du. Ein Herz, das mit Widersprüchen klarkommt.
Was ist das für ein Wort Gottes, das dich trifft?

Für die Autoren der Barmer Erklärung von 1934 war es ein Wort aus dem Johannes-Evangelium. Männer und Frauen waren den Deutschen Christen entgegengetreten, die meinten, es gäbe spezifisch deutsche, christliche Wahrheiten. Die Verfasser der Barmer Erklärung pochten auf dieses Wort Gottes: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Keine anderen Ereignisse, keine anderen Mächte, keine anderen Gestalten und Wahrheiten.

Ein zweites Beispiel: König David bekam mit Bathseba ein Kind. Bathseba war aber verheiratet, der König ein Ehebrecher. Er schickte Bathsebas Mann an die Front, sie wurde Witwe, David konnte sie heiraten. Diesen König David traf das Wort Gottes aus dem Munde seines Propheten Nathan. Der legte ihm einen Streitfall zur Entscheidung vor und David entscheidet. Aber es ging Nathan nicht um den Streitfall und den dort Beklagten. „Du bist der Mann!“, sagt er zu David, „Du bist der Mann, der unrecht gehandelt hat vor Gott.“

Das Wort Gottes ist ein Wort der Selbsterkenntnis. Es kann zum Handeln befähigen oder auch reu- und demütig machen. Das Wort Gottes ist auch in seinen Wirkungen vielfältig. Es kann verletzen, Selbsterkenntnis hervorbringen, die richtige Stunde erkennen lassen. Bei all dem es ein lebendiges Wort. Dem Verfasser des Hebräerbriefs kam es darauf an, dass es überhaupt gehört wird. Dass wir uns nicht von Vornherein dagegen wappnen. Und deshalb warnt er so eindringlich, das Herz nicht zu verhärten.

[3. Der Schabbat Gottes]

Wer sich diese Warnung zu Herzen nimmt, den erwartet das Eingehen in die große Ruhe Gottes. Gemeint ist die Ruhe des Schabbat, an dem Gott von allen seinen Werken ausruht und an der die Empfänger des Hebräer-Briefes dereinst teilhaben können. Die Verheißung steht direkt vor der Ermahnung: So lasst uns nun bemüht sein, in diese Ruhe einzugehen, damit nicht jemand zu Fall komme. Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert…

Lass dich nicht verhärten – nicht, weil Hölle und Fegefeuer drohen. Lass dich nicht verhärten – damit du eingehen kannst in die Ruhe Gottes, damit du an seinem ewigen Schabbat teilhaben kannst.

Dieses Bild von der Ruhe Gottes erinnerte mich an den großen Neurologen und Autor Oliver Sacks. Er wuchs in einer großen jüdisch-orthodoxen Familie von Naturwissenschaftlern auf. Er hat als junger Mensch den orthodoxen Lebenswandel verlassen und säkular gelebt. Zwei Wochen vor seinem Tod schrieb er: „Mir kommt der Sabbat in den Sinn, der Tag der Ruhe, der siebte Tag der Woche, vielleicht auch der siebte Tag des eigenen Lebens, der einem das Gefühl gibt, man habe seine Arbeit getan und dürfe nun guten Gewissens ruhen.“2

Oliver Sacks hat den Hebräerbrief aus dem Neuen Testament vermutlich nicht gekannt. Aber beim Abschied von seinem Leben war ihm dieser Gedanke ein Trost: das Eingehen in die Ruhe Gottes.

[4. Herz zu vergeben?]

Der Eröffnungsgottesdienst zu jenem Kölner Kirchentag 2007 endete mit Zeilen aus einem Gedicht von Nelly Sachs: Ich lese die dritte und die letzte Strophe.

„[…] Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
mit ihren Worten Wunden reißend
in die Felder der Gewohnheit,
ein weit Entlegenes hereinholend
für den Tagelöhner
der längst nicht mehr wartet am Abend
[…]
Wenn die Propheten aufständen
in der Nacht der Menschheit
wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen,
Nacht der Menschheit
würdest du ein Herz zu vergeben haben?“3

Dass wir für Gottes Wort, das scharf und durchdringend ist, unsere Herzen und Sinne öffnen können, das gebe Gott.
Amen.

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1 Hebr 3,7; 3,15; 4,7.
2 Oliver Sacks: Sabbat. In: ders: Dankbarkeit. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2015. S. 43-58 (hier: 57f.).
3 Zitiert nach https://www.deutschelyrik.de/wenn-die-propheten-einbraechen.html; letzter Zugriff 16.02.2022.


Bärbel Husmann