Sense, Basta, Schluss, vorbei

Predigt zu Jona 3

Reale Bedrohung: "Noch 40 Tage! Dann ist Ninive völlig umgeworfen" (Symbolbild) © Pixabay/sippakorn

Von Stephan Schaar

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! AMEN.

“Stell dir vor, es ist Krieg - und keiner geht hin...”

Ja, heute muss man natürlich umformulieren und fragen: “Stell dir vor, es ist Krieg - und keiner hilft denen, die überfallen wurden...!”

Liebe Geschwister, damals, als ich studierte,  Anfang der 80er Jahre, war es ein Muss: sich vorzustellen, dass niemand eine Waffe in die Hand nimmt, ebenso wie: “Atomkraft? Nein, danke!” Aber so richtig vorgestellt hat man es sich trotzdem nicht, dass all der Protest gegen Pershing II und SS 20 wirklich etwas ausrichten könne.

Vielleicht war es Kleinglaube. Oder aber es war schlicht das Festhalten an liebgewordenen Verhaltensmustern und bequemen Denkweisen: Wenn niemand mehr Dinge täte, gegen die zu empören grundanständig und sogar christlicherseits geboten ist - wer bliebe da noch als Feindbild? Wie sollte dann die eigene Gruppe ihr Profil bewahren als die Aufgeklärten, die Wachen, die mit der Fühlung am Puls der Zeit? Wenn es keine Bösen mehr gäbe, woran erkennte man dann noch die Guten?

Stell dir vor, es ist Naziaufmarsch, Pegida-Demo und Querdenker-Randale - und statt der üblichen Konfrontation zwischen den Ewiggestrigen und der “Antifa” käme auf einmal ein Dialog zustande, und die Braunen würden schließlich Farbe bekennen: Schluss mit der Ausländerfeindlichkeit, Ja zur Multikulturalität, vorbei die Gewalt gegen Homosexuelle, Reue und Neubesinnung gegenüber den Juden.

Okay - das übersteigt nicht nur Ihr Vorstellungsvermögen, sondern durchaus auch meines. Darin erweisen wir uns als Erben jenes Mann, von dem nun erzählt werden soll: Jona, der Missionar wider Willen, der in die Höhle des Löwen geschickt wird - und sich nicht etwa deswegen ziert, weil er um sein Leben fürchtet, sondern weil er den Löwen nicht gezähmt, sondern getötet sehen will.

Hören wir das dritte Kapitel des kleinen Prophetenbuches:

Das Wort Adonajs erging an Jona – ein zweites Mal: »Steh auf! Geh nach Ninive! In die riesige Stadt! Rufe ihr die Botschaft zu, die ich dir auftrage!« Jona stand auf und ging nach Ninive, wie Adonaj ihm aufgetragen hatte. Ninive war aber selbst für Gott eine große Stadt. Es dauerte drei Tage sie zu durchqueren.

Jona war gerade mal einen Tag in die riesige Stadt hineingelaufen, da rief er umher und sagte: »Noch 40 Tage! Dann ist Ninive völlig umgeworfen«. Da setzten die Leute von Ninive Vertrauen in Gott. Sie riefen ein Fasten aus und kleideten sich in Sack und Asche von Groß bis Klein. Als das Wort den König von Ninive traf, erhob er sich von seinem Thron, tat sein Herrschaftsgewand ab, zog Sackzeug an und setzte sich in den Staub.

Er ließ in Ninive ausrufen und auf Erlass des Königs und seiner Großen kundtun: »Menschen und Tiere, Groß- und Kleinvieh sollen überhaupt nichts zu sich nehmen, sie sollen weder essen noch Wasser trinken. Sie sollen sich in Sack und Asche kleiden, Mensch und Tier, und zu Gott mit Macht rufen. Jeder und jede soll vom bösen Weg umkehren und von der Gewalttat, die an ihren Händen klebt. Wer weiß, vielleicht kehrt die Gottheit noch einmal um, vollzieht eine Bewegung des Trosts und wendet sich ab von ihrem glühenden Gesicht, so dass wir nicht untergehen.«

Da sah die Gottheit, was sie taten: Ja wirklich! Sie kehrten um von ihren bösen Wegen. Die Gottheit bereute das Unheil, das sie angekündigt hatte ihnen anzutun, und sie tat es nicht.

Nach Ninive gehen, liebe Gemeinde, das klingt so beliebig, so entfernt. Aber Ninive damals, das war wie Rom zur Zeit der Christenverfolgungen oder Berlin während des Dritten Reichs. Geh in das Land, in dem noch heute Menschen leben, die sich weigern, Verantwortung zu übernehmen für das, was sie getan haben damals, als man “Lebensraum im Osten” für die germanischen Herrenmenschen gewinnen wollte, koste es (an Menschenleben), was es wolle! Geh dorthin, wo Mord und Gewalttat ihren Ursprung haben, dahin, wo die Wannseekonferenz stattfand, dorthin, wo sie es sich haben wohl sein lassen mit ihren Freunden und Familien, die Krieg und Unheil über die Nachbarvölker gebracht und beschlossen haben, das Volk Gottes vom Erdboden auszutilgen!

Und was sollte das für eine Botschaft sein, die man solchen Leuten zurufen könnte?!

Etwa die der frommen Eiferer, die in Länder gehen, in denen christliche Mission bei hohen Strafen verboten ist, und die Muslimen traktieren: “Nehmt  Christus als euren Herrn an!”?
Oder finden Sie es besser, wenn die hinlänglich bekannten Weltuntergangspropheten vor U-Bahneingängen und Kaufhäusern fröhlich-lächelnd “Erwachet!” anbieten, auf dass die Bekehrten am Tage von Harmageddon Zuflucht fänden unter dem Schutz des Höchsten?!

Jona hat nichts weiter zu tun als Gottes Botschaft auszurichten. Aber er will nichts davon wissen, dass die Kranken des Arztes bedürfen und nicht die Gesunden, dass Gott regnen lässt über Gerechte und Sünder, dass er schon zufrieden gewesen wäre, wenn man in Sodom auch nur zehn Gerechte gefunden hätte. Jona denkt, was viele Fromme ebenso empfinden: “Die haben das gar nicht verdient, in letzter Sekunde noch eine Chance zu bekommen, dem Untergang zu entrinnen! Die sollen jetzt mal schön die Suppe auslöffeln, die sie sich - und uns allen - eingebrockt haben!”

Ja, Jona, ich kann dich darin verstehen, dass du verlangst, es dürfe nicht folgenlos bleiben, was  Menschen mit voller Absicht und ohne Rücksicht auf Verluste falsch gemacht haben!
Ja, Jona, auch ich wünsche mir manchmal, dass einer mit der Faust dreinschlägt und den Skrupellosen wenigstens mal ordentlich Angst einjagt, damit sie selber spüren, wie sich das anfühlt, wenn andere mit deinem Leben spielen...

Aber Jona hat kapiert, dass Gott nun mal der Stärkere ist. Gegen dessen Dickkopf kommt er einfach nicht an. Also macht er sich auf den Weg in diese Mega-Stadt, diesen Moloch, den zu durchqueren drei Tage in Anspruch nehmen würde. Statt bis ins Zentrum geht er allerdings nur bis in einen der Außenbezirke, und ohne sich irgendwelche Mühe zu geben, die Menschen mit der Botschaft Gottes auch tatsächlich zu erreichen - also gewissermaßen: Indem er nichts weiter tut als “Dienst nach Vorschrift” - knallt der Prophet den Niniviten die harten Fakten um die Ohren: “In vierzig Tagen gehen hier alle Lichter aus! Sense, Basta, Schluss, vorbei!”

Also kein Plädoyer à la: “Schluss jetzt mit der ewigen Wachstumsideologie, sonst ist die Klimakatastrophe nicht mehr einzufangen!” Oder: “Sorgt endlich für menschenwürdige Lebensverhältnisse für alle!” Sondern schlicht und ergreifend: “Ich zähle jetzt bis 40 - und dann ist der Ofen aus!”
Auf seine ganz spezielle Weise scheint der Künder des Gotteswortes von der Wahrheit jenes Wortes überzeugt, das Martin Buber geprägt hat: “Die große Schuld des Menschen ist, dass er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.”

In Jonas Worten wird Gottes ausgestreckte Hand zu einer drohenden Faust, wird seine Kritik zu einem Todes-Urteil. Statt einen letzten kleinen Handlungsspielraum aufzuzeigen, weist Jona nur noch auf die unausweichlich negativen Folgen einer verkehrten Lebensorientierung. Er sieht die götzendienerischen Ausländer ihren Geschäften nachgehen, sieht sie über Leichen gehen wie gewohnt, um ihre hübschen Profite zu erwirtschaften, er sieht dead men walking - wie man in den USA sarkastisch die Insassen der Todeszellen auf dem Weg zur Hinrichtung nennt.

Und was machen diese Leute, denen auf den Kopf zu gesagt wird: Ihr seid im Grunde schon tot?
☞ Wider alles Erwarten setzen sie ihr Vertrauen auf Gott. Vor den ungläubigen Augen des Todesboten kehren sie um zum Leben, das sie sich davon versprechen, Gott nun endlich Respekt zu zollen.
☞ Jona bewirkt so das Gegenteil dessen, was er eigentlich bezweckte! Sein Mund verkündet Gottes Macht und erzielt eine Wirkung, die der Sprecher ganz und gar nicht beabsichtigt hatte:

Schon im ersten Kapitel hatte Jona ein Glaubensbekenntnis abgelegt, wo es ihm mitnichten um Mission ging. Er hatte dort nur erklären wollen, weshalb er sich so sicher war, den Grund für den Seesturm zu kennen, der das Schiff in Bedrängnis brachte, mit dem er hatte Gott entfliehen wollen: genau deshalb nämlich, weil Gott selbst hinter ihm her war. Ihm zu entrinnen ist aber nun mal nicht möglich, wenn es sich um die “Gottheit des Himmels, die das Meer und das Trockene gemacht hat” handelt.

Und hier nun folgt seinen lapidaren Worten nicht weniger als die völlige Umkehr aller Werte und Verhältnisse in Ninive alias Babylon alias Rom alias Berlin alias Moskau:

“Stell dir vor, es ist Weltwirtschaftkrise und die Top-Manager verzichten auf ihre Boni, weil sie einsehen, dass sie so etwas nicht verdient haben, und sorgen statt dessen dafür, dass jeder Arbeit und satt zu essen hat...”
“Stell dir vor, die Politiker übertrumpfen sich auf Wahlplakaten und in Werbespots nicht in Versprechungen, sondern ziehen ehrlich Bilanz ihrer geleisteten Arbeit, schielen nicht auf Umfragewerte, sondern haben tatsächlich das Gemeinwohl im Sinn...”
“Stell dir vor...”

Und das passiert dann auf einmal wirklich! Die Niniviten haben anscheinend begriffen, was die Stunde geschlagen hat: Vom König über das normale Volk bis hin zum Viechzeug kehrt alles um zu Gott - sie zeigen Reue, sie signalisieren, dass sie bereit sind, die Regeln ihres Tuns von Gott bestimmen zu lassen, statt alles allein entscheiden und stets zu ihren Gunsten beeinflussen zu wollen.

Sollte das denn tatsächlich ein Ärgernis sein, nur weil Vorurteile sich als falsch erweisen?
Sollte das in Wahrheit mehr neue Probleme aufwerfen als alte lösen?
Sollte das wirklich keine Wende zum Besseren sein?!

Lieber Jona, auch wenn du es nicht aushältst, als Phrasendrescher dazustehen, dessen Drohung verhallt, weil Taube auf einmal zuhören, weil Kopflose plötzlich nachdenken und Halunken radikale Konsequenzen ziehen - Gott kommt nicht umhin, sich darüber zu freuen, dass die Verlorengeglaubten sich wieder finden lassen, dass die schon für tot Gehaltenen sich doch noch für das Leben entscheiden!

Gott bereut das Unheil, das er angekündigt hatte. Das heißt: Nicht dass er es angekündigt hat, bereut er, sondern es tut ihm leid, dass er erst so drastisch hatte werden müssen, das Ende anzudrohen. Denn das will er nicht in die Tat umsetzen. Vielmehr hat er Mitleid mit diesen Menschen, die ihm so am Herzen liegen wie das ungezogene Kind einer Mutter, die schon so oft geschimpft, gedroht, womöglich gar geohrfeigt hat und bald nicht mehr weiß, mit welchen Mitteln sie den Sprössling schließlich zur Räson bringen kann.

Aber noch einmal die Sintflut über die Erde bringen? - Das kommt für Gott nicht infrage! Nie mehr soll es das geben: Völlige Vernichtung und einen neuen “Versuchsaufbau”, damit es endlich besser klappt mit der Kommunikation zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen! Nur: Was dann? Welchen Trumpf hat Gott noch im Ärmel, welche Pädagogik erzielt den erwünschten Erfolg?

Es gibt noch ein viertes Kapitel des Jonabuches, in dem diese dramatische Geschichte ein erstaunliches Ende findet. Und: Es gibt die Geschichte dessen, der ebenfalls zu denen hingegangen ist, die Gottes Feinde waren. Diese Geschichte endet mit dem Tod des Gottesboten, mit seiner Kreuzigung. Vielmehr endet die Geschichte dort nicht, sondern kommt an einen entscheidenden Wendepunkt: “Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!”

Amen.


Stephan Schaar