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Gott begegnen
Predigt zu Ex 34,29-35 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 30. Januar 2022 (letzter Sonntag nach Epiphanias)
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für heute steht im 2. Buch Mose im 34. Kapitel. Das Volk Israel ist auf seiner Wanderung durch die Wüste am Berg Sinai angekommen und lagert dort. Außerhalb des Lagers gibt es ein Zelt der Begegnung. Dort begegnen sich Mose und Gott. Sie reden in diesem Zelt der Begegnung miteinander, wie Freunde miteinander sprechen – so beschreibt es die Bibel (Ex 33,11).
Neben diesem Zelt gibt es einen zweiten Ort der Begegnung, das ist der Berg Sinai selbst. Aber das ist kein Ort des Gesprächs, sondern ein Ort der Offenbarung. Mose steigt mehrfach auf den Gipfel des Berges. Zwei Mal kommt er mit den beschriebenen beiden Steintafeln zurück, den Zehn Geboten. Das erste Mal wirft er sie vor lauter Zorn entzwei, als er das goldene Kalb sieht. Aber es gibt einen zweiten Versuch. Mose bleibt wieder 40 Tage und Nächte auf dem Berg Sinai und dieses Mal ist es anders, als er zurückkommt. Der Predigttext:
29Als Mose vom Berg Sinai herabstieg – und Mose hatte die beiden Tafeln des Zeugnisses in der Hand, als er vom Berg herabstieg –, da wusste Mose nicht, dass die Haut seines Gesichts strahlend geworden war, während er mit ihm redete. 30Aaron aber und alle Israeliten erblickten Mose, und sieh, die Haut seines Gesichts strahlte. Da fürchteten sie sich davor, ihm nahe zu kommen.
31Mose aber rief sie herbei, und Aaron und alle Fürsten in der Gemeinde wandten sich ihm wieder zu, und Mose redete zu ihnen. 32Danach traten alle Israeliten heran, und er gebot ihnen alles, was der Herr mit ihm auf dem Berg Sinai geredet hatte.
33Dann hörte Mose auf, mit ihnen zu reden, und legte eine Hülle über sein Gesicht.
34Wenn nun Mose hineinging vor den Herrn, um mit ihm zu reden, legte er die Hülle ab, bis er wieder heraustrat. Dann trat er heraus und redete zu den Israeliten, was ihm befohlen war. 35Und die Israeliten sahen das Gesicht des Mose, wie die Haut von Moses Gesicht strahlte, und Mose legte die Hülle über sein Gesicht, bis er wieder hineinging, um mit ihm zu reden. [Zürcher Übersetzung]
[1. Innere Erlebnisse – äußere Veränderungen]
Sechs Wochen Sommerferien, das sind so etwa vierzig Tage. – Ich war immer gespannt, wie die Sechstklässler nach den Sommerferien so waren. Aus den meisten Kindern waren in den sechs Wochen Jugendliche geworden. Ihre Gesichter hatten das Kindliche abgelegt und sie hatten einen neuen Ausdruck darin. Ich wusste: Klasse 7 würde anders mit ihnen sein als Klasse 5 und 6.
Auch unsere Nachbarin von gegenüber ist eine andere geworden. Wir sahen sie täglich auf dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Dann viele Wochen nur von ferne und selten. Jetzt hat sie ein Baby bekommen. Sie sieht etwas weicher aus, sie ist nicht mehr so blass, sie lächelt mehr, ihre Augen nehmen die Umgebung stärker wahr als früher, sogar ihre Nase scheint mir nicht mehr so spitz zu sein. Verwandlungen!
Verwandlungen, die man auch äußerlich wahrnehmen kann.
Von so einer Verwandlung ist im Predigttext die Rede. Eine, die äußerlich sichtbar ist für andere, Mose selbst sah es nur im Spiegel der anderen.
Seine Verwandlung, sein strahlendes Gesicht, verweist auf seine Gottesbegegnung auf dem Berg Sinai. Die Nähe Gottes, die er dort erlebt hat, hat auf ihn „abgefärbt“. Es ist anders als beim ersten Mal, als er mit den Steintafeln zurückkam.
[2. Unterscheidungen – ein erster und ein erneuerter Bund]
Moses‘ erster Aufenthalt auf dem Berg Sinai wird in Kapitel 24 erzählt. Dieses Kapitel endet mit dem Satz „Und Mose stieg auf den Berg und blieb vierzig Tage und vierzig Nächte auf dem Berge.“ Ein guter Schluss.
Dann kommen die Kapitel 25-31 mit den verschiedensten Geboten und Anweisungen. Am Ende werden die beiden Steintafeln an Mose übergeben. Dann kommen zwei weitere Kapitel, 32-33, in denen die Geschichte vom Goldenen Kalb erzählt wird.
Jetzt also der zweite Versuch. Mose bringt unbeschriebene Steintafeln mit. Er bleibt wieder 40 Tage und Nächte, aber er fastet in dieser Zeit. Gott hat sich von der Fürsprache des Mose erweichen lassen, er verzichtet auf Härte, auf Bestrafung, auf Rache. Er vergisst den Vertragsbruch. Er verzeiht und nimmt Reue und Schuldbekenntnis an und will genau so ein Gott sein. Ein paar Verse vor dem Predigttext legt der Erzähler Gott folgende Worte in den Mund: Der Herr, der Herr – ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue, der Gnade bewahrt bis ins tausendste Geschlecht, der Schuld und Missetat und Sünde verzeiht (Ex 34,6.7a). Und dann wird ein neuer Bund, ein neuer Vertrag geschlossen.
Diese Vorgeschichte ist wichtig. Es ist wichtig, dass die Beziehung zwischen Gott und Volk und Mose als Mittler alles andere als einfach ist. Es ist Hochgefühl und Ernüchterung, Liebe und Enttäuschung, Versprechen und Erneuerung des Versprechens – wie im wirklichen Leben. Als Mose danach vom Berg Sinai herabstieg, da wusste Mose nicht, dass die Haut seines Gesichts strahlend geworden war, während Gott mit ihm redete.
[3. Verhüllte Gesichter]
Ich schaue auf Ihre, auf eure verhüllten Gesichter. Wir tragen Masken, um einem sehr kleinen Virus keinen Zugang zu unseren Atemwegen zu verschaffen, damit es dort sein Unwesen treibt. Die Maske schützt nicht nur uns selbst, sondern auch die anderen um uns herum. Wir können dieses kleine Virus übertragen, ohne es selbst zu merken. Mit der Maske wollen wir es dem Virus schwer machen, von einem zu anderen zu gelangen. Sie ist ein Schutz. Mit der Maske können wir anderen Menschen näherkommen, ohne Angst zu haben.
Moses Gesichtsverhüllung hat ebenfalls etwas mit Nähe und Nahbarkeit zu tun. Und auch mit Angst. Als Mose vom Berg hinunter ins Lager kommt, weiß er noch nicht, dass sein Aussehen verändert ist. Der Anblick versetzt die Israeliten im Lager in Furcht. Sie wollten Mose nicht nahekommen. Erst nachdem er Aaron und andere Obere zu sich gerufen hatte und mit ihnen geredet hatte, traut sich auch der Rest in seine Nähe. Es muss ihnen nicht geheuer gewesen sein, dieses strahlende Antlitz, das ganz offenbar eine Folge der Nähe zwischen Mose und Gottes Herrlichkeit war. Mose löst das Problem pragmatisch. Er setzt eine Maske auf, wenn er im Lager umhergeht. Manche übersetzen auch: Er bedeckt sein Gesicht mit einem Schleier oder einer Decke. Wesentlich ist nicht das Wort, sondern die Verhüllung. Diese Verhüllung ermöglicht es ihm, sich ungezwungen im Lager zu bewegen. Im Gespräch mit Gott aber kann er die Maske fallen lassen.
Die Erzähler der Mose-Geschichte haben dieses Motiv der Verhüllung, der Maske später nicht wieder aufgenommen. Aber das Motiv, dass die Nähe Gottes Spuren hinterlässt, dass sie von Wolken, Feuersäulen, Stimmen, Flammen, Licht begleitet ist, das kommt immer wieder vor. Bei dem Propheten Elia, von dem im 1. Buch der Könige erzählt wird, offenbart sich Gott weniger gewaltig, aber umso eindrucksvoller: in einem sanften Säuseln des Windes (1 Kön 19,12). In der Lesung (Mt 17,1-9) haben wir gehört, dass auch die Erzähler des Neuen Testamentes solche Erscheinungen der göttlichen Gegenwart aufgenommen haben. Matthäus hat Jesus an die Seite des Mose und des Elia gestellt. Es sind besondere Erfahrungen an besonderen Orten – oft: Berge. Nie lassen sie sich festhalten.
[4. Die Nähe Gottes]
Wir haben oft Grund zur Klage, dass wir Gottes Nähe nicht spüren. Wir bitten Gott in Gebeten darum, er möge uns nahe sein. Wir hätten manchmal gern mehr von diesem nahbaren Gott, der sich zeigt und spricht.
Es gibt eine eindrucksvolle Geschichte über die Weitergabe der Tradition. Sie beginnt mit einem berühmten Rabbiner, der Anfang des 18. Jahrhunderts im Westen der heutigen Ukraine gelebt hat und das osteuropäische Judentum maßgeblich geprägt hat:
„Wenn der Baal-Schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Walde, zündete ein Feuer an und sprach, in mystische Meditation versunken, Gebete – und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Walde und sagte: ‚Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen‘ – und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: ‚Wir können kein Feuer anzünden, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Walde, wo all das hingehört, und das muss genügen.‘ – Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbringen hatte, da setzte er sich in seinem Schloss auf seinen goldenen Stuhl und sagte: ‚Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.‘“1
So ist es. Was wir haben, sind die biblischen Geschichten. Das genügt. Lasst uns einander diese Geschichten weitererzählen – von dem barmherzigen und gnädigen Gott, der Gnade bewahrt bis ins tausendste Geschlecht, der Missetat und Sünde verzeiht.
Amen.
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1 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 5. Auflage 1993. S. 384.
Bärbel Husmann