1. Die Zürcher Reformatoren Zwingli und Bullinger
2. Die Straßburger Reformatoren Capito und Bucer
3. Der Genfer Reformator Calvin
4. Die ›reformierten‹ Reformatoren und die Judenschriften Luthers
Zur Zeit der Reformation lebten in der Stadt Zürich keine Juden. Dennoch haben sich die beiden Reformatoren Huldrych Zwingli (1484-1531) und sein Nachfolger Heinrich Bullinger (1504-1575) in vielfältiger Weise zum Judentum geäußert. In ihren Schriften betonten beide die Einheit des Alten und Neuen Bundes.
Diese Voraussetzung führte sie aber nicht zu der Annahme einer bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes. Vielmehr gingen beide Reformatoren davon aus, dass das alttestamentliche Gottesvolk in der Kirche seine Bestimmung gefunden habe und das Judentum nach Christus verworfen sei. Auch in ihren Aussagen zum zeitgenössischen Judentum partizipierten die Zürcher Reformatoren am traditionell kirchlichen Antijudaismus und an der allgemein negativen Haltung gegenüber dem Judentum. Gleichwohl blieben ihre Aussagen gemäßigt.
Dies gilt vor allem für Zwingli. Er nahm das Judentum vornehmlich als Theologe in den Blick und bewertete die jüdische Frömmigkeit hauptsächlich aus der Perspektive der traditionellen Auslegung des Neuen Testamentes. Demnach glaubte Zwingli, dass das Judentum in seiner Religionsausübung auf Äußerlichkeiten (Gesetze, Riten, Opfer etc.) fixiert sei und dadurch Gott und seine Gerechtigkeit verfehle. Weil die Juden schließlich Christus verkannt und ans Kreuz geliefert hätten, seien sie zu Recht verdammt worden.
Diese Auffassung von der jüdischen Verwerfung führte ihn allerdings nicht dazu, persönliche Angriffe gegen Juden zu starten oder diskriminierende Maßnahmen zu fordern. In auffallender Weise verzichtete er sogar darauf, den Juden so ungerechtfertigte Vorwürfe wie Gotteslästerung oder Feindschaft gegenüber dem christlichen Glauben zu machen. Auch mit dem Vorwurf des jüdischen Wuchers war Zwingli zurückhaltend; er ließ sich nicht dazu verleiten, Juden kollektiv für sozialpolitische Missstände verantwortlich zu machen. Zudem glaubte er an die Möglichkeit, dass auch außerhalb der Kirche eine Erwählung möglich sei, und warnte die heidenchristliche Kirche in seiner Auslegung des Römerbriefes davor, überheblich zu werden und die Juden verächtlich zu behandeln.
Die jüdische Bibelauslegung kannte Zwingli nur aus antijüdischen Schriften. Im Ganzen beurteilte er sie als wenig hilfreich. Er kritisierte, dass die jüdischen Ausleger eine ›fleischliche‹ Vorstellung von der messianischen Erlösung hätten und deshalb auch die auf Christus vorausweisenden Verheißungen nicht verstehen würden. Andererseits konnte Zwingli aber auch einige positive Aspekte der jüdischen Religion hervorheben. So lobte er z. B. die jüdische Heiligung des Gottesnamens und die strenge Einhaltung des ersten Gebotes.
Interessant ist auch Zwinglis einziger Bericht von der Begegnung mit einem Juden: Zusammen mit anderen christlichen Gelehrten hatte er nämlich um 1522 Kontakt aufgenommen zu dem jüdischen Arzt Mosche von Winterthur. Eventuell erhoffte er sich Hilfe beim Studium der Hebräischen Bibel. Als Zwingli 1524 verdächtigt wurde, er habe seine ganze reformatorische Theologie bei Juden gelernt, wies er diesen Vorwurf zurück, verteidigte aber seinen Kontakt mit dem jüdischen Arzt. Selbst nach dem Kirchenrecht sei es durchaus legitim, bei schwierigen Passagen des Alten Testaments auf die Hilfe jüdischer Gelehrsamkeit zurückzugreifen. Ferner ist Zwinglis Bericht zu entnehmen, dass Mosche von Winterthur zweimal die Hebräisch-Vorlesungen in Zürich besuchte und den Zürchern einen rechten Umgang mit der hebräischen Sprache bescheinigte.
Im Unterschied zu Zwingli hat sein Nachfolger Bullinger wahrscheinlich nur Juden gekannt, die zum Christentum konvertiert waren. Er teilte im Wesentlichen die theologischen Auffassungen Zwinglis. Allerdings konnte er sich in sehr abschätziger Weise über die Juden äußern. Besonders deutlich wird dies in einem Gutachten, das Bullinger 1572 verfasst hat. Darin nahm er Stellung, ob man Juden guten Gewissens in einem Territorium aufnehmen könne.
Bullinger verneinte diese Frage und verwies auf die Erfahrungen der Geschichte: Die Juden seien nämlich durch den Talmud verblendet, würden durch ihren Wucher die sozialen Probleme verschärfen und einfache Christen in ihrem Glauben verunsichern. Selbst durch Gesetze könne man die Juden nicht von ihrem gotteslästerlichen Tun abhalten. Deshalb sei eine Aufnahme von Juden in einem christlichen Gemeinwesen durch die Obrigkeit nicht zu verantworten. Wenn dies dennoch an manchen Orten geschehe, dann deshalb, weil die Juden es bekannter Weise verstünden, sich durch Bestechungsgelder und finanzielle Abhängigkeiten Vorteile zu verschaffen.
Bullingers Ablehnung einer Duldung von Juden gleicht hier der Argumentation Luthers aus den Jahren 1536/37 (s.u.). Vergleicht man sie jedoch mit den späten Judenschriften Luthers (1543), so ist nicht zu übersehen, dass der Zürcher Reformator anders als Luther zwar die Aufnahme von Juden ablehnte, eine aktive Vertreibung jedoch in keiner Weise gefordert hat. Und auch die Judenschutzrechte des Kaisers wurden in seinem Gutachten nicht in Abrede gestellt.
Luther dagegen hielt es nicht nur für angemessen, Juden totzuschlagen, sondern forderte auch von der Obrigkeit, die Synagogen und jüdischen Schulen zu verbrennen. Außerdem regte Luther an, Häuser von Juden zu zerstören, ihr Vermögen zu konfiszieren und sie zu Zwangsarbeiten heranzuziehen. Von solchen antijüdischen Maßnahmen ist Bullinger in seiner Stellungnahme weit entfernt, er hat die groben Judenschriften Luthers sogar als unerträgliche Grenzüberschreitung zurückgewiesen (s.u.).
Auch der Straßburger Reformator und Hebraist Wolfgang F. Capito (1478-1541) hat sich der von Zwingli entwickelten These der Bundeseinheit angeschlossen. D.h. Capito betrachtete den alttestamentlichen Bund Gottes mit Israel als nicht aufgehoben, sondern sah diesen in dem Mittler Christus als erfüllt und vollendet. Capito betrachtete die Juden deshalb als ›Verbündete und Bundesgenossen‹.
Zudem war Capito der Überzeugung, dass gottesfürchtige Juden mit den gläubigen Christen in gewisser Weise verbunden seien. Denn für Capito hatte ein Jude, der Gott wahrhaft fürchtete und seine Gebote hielt, bereits einen bestimmten Grad an Glückseligkeit erlangt. Deshalb könne man nicht von ihm behaupten, er lebe ohne Gott und habe keine Kenntnis des Messias Gottes. Vielmehr sei seine Seele bereits mit dem geheimen Samen, d.h. dem fleischgewordenen Wort Gottes angefüllt.
Capito sah hier einen Vorrang der (erwählten) Juden gegenüber den Heiden. Dieser Vorrang sei in dem alttestamentlichen Gesetz bzw. in dem mosaischen Amt begründet, denn dies war bereits ganz auf die Gottesfurcht ausgerichtet. Gleichwohl machte Capito deutlich, dass die Gottesfurcht allein nicht ausreiche. Wegen der sündhaften Natur des Menschen könnten nur die Wiedergeborenen durch den Geist Christi Anteil erlangen an der göttlichen Natur.
Im Blick auf das Land Israel ging Capito davon aus, dass die Kinder Israels nach einer langen Zeit des Ungehorsams und des Exils, in der sie durch ein anderes Volk ersetzt wurden, zu ihrem Herrn und Messias zurückkehren würden. Dies werde geschehen, wenn die Fülle der Völker hinzugekommen sei. Dann würden der Tempel und das himmlische Jerusalem vollständig wiederaufgebaut.
Capito berief sich hier vor allem auf Hos 3,4f und Röm 11,25f. Die Erfüllung der Rückkehr Israels war für ihn Sinnbild der endgültigen Vollendung der Wahrheit. Ausdrücklich bezog Capito die biblischen Verheißungen von der Rückkehr Israels auf das ›Israel nach dem Fleisch‹. Damit meinte er jedoch keineswegs die Gesamtheit der jüdischen Nachkommen, sondern allein die erwählten Juden, die derzeit allerdings verblendet seien. Erst in der anbrechenden Endzeit würde dieses ›verborgene Israel‹ erlöst und somit zum Sinnbild für die Vollendung des Reiches Christi. Capito wurde von seinen Zeitgenossen für diese Vorstellungen von der endzeitlichen Errettung Israels hart kritisiert, und seine gelehrten Kontakte zu Juden und seine Kenntnis jüdischer Schriftauslegung wurden beargwöhnt.
1537 schrieb Capito an Luther einen Empfehlungsbrief für den Juden Josel von Rosheim (1476-1554). Er bat Luther, Josel bei seiner Mission zum sächsischen Kurfürsten zu unterstützen, um die dortige Vertreibung der Juden von 1536 rückgängig zu machen. Luther weigerte sich jedoch, Josel zu empfangen und unterstrich in seinem Antwortbrief, dass er eine Duldung in keiner Weise unterstütze, weil von Juden seines Erachtens soziale, politische und religiöse Gefahren ausgingen (Wucher, Türkenspionage, Proselytenmacherei).
Während Capito also ein ungewöhnlich aufgeschlossenes Verhältnis zum Judentum hatte – Josel von Rosheim saß z.B. als Hörer in Capitos exegetischen Vorlesungen – kann dies von seinem Straßburger Kollegen Martin Bucer (1491-1551) nicht behauptet werden. Bucer entwickelte sich sogar zu einem zentralen Gegner Josels neben Luther.
Dies ist umso erstaunlicher, da Bucer wie alle ›reformierten‹ Reformatoren die substantielle Einheit des Alten und Neuen Bundes voraussetzte und darüber hinaus auch die Einrichtungen des Alten Bundes (Riten, Zeremonien, bürgerliche Gesetze und Vorschriften) keineswegs als völlig abgetan betrachtete. Zudem relativierte Bucer den Unterschied zwischen den Testamenten, indem er den Unterschied zu dem noch kommenden himmlischen Zeitalter als viel gravierender einstufte.
Gleichwohl stand für Bucer fest, dass das Judentum von Gott verworfen und wegen der Kreuzigung Christi und der Missachtung des göttlichen Willens aus dem Land der Verheißung vertrieben worden war. Das den Juden einst zum Leben gegebene Gesetz bringe ihnen ohne den Glauben an Christus nichts als Tod und Verdammnis. Und selbst die ihnen vormals zuteil gewordene Gnade des Bundes habe seine Wirkung verloren und sei auf die Kirche übergegangen.
Bucer selbst war sich jedoch darüber im Klaren, dass eine exklusive Betonung der jüdischen Verwerfung seine These von der substantiellen Einheit des Bundes in Frage stellen musste. In seiner Auslegung von Röm 9-11 versuchte Bucer deshalb, dieses theologische Problem zu lösen, indem er die Verstockung Israels in den Dienst der Heidenmission stellte und im Blick auf die endzeitliche Wiederannahme ganz Israels von einem Rest erwählter Juden ausging. Allerdings verstand Bucer das offensichtlich als eine Phase kurzzeitigen Wiederauflebens der Königsherrschaft in Israel vor dem endgültigen Gericht. Und auf die Frage, wie viele Juden letztlich errettet würden, schwankte Bucer zwischen ›die meisten‹ und ›recht wenige‹.
Auf jeden Fall aber sah Bucer es als Aufgabe, die Juden zum christlichen Glauben zu bekehren. Infolgedessen riet er davon ab, die Juden verächtlich zu behandeln; vielmehr müsse man alles tun, um sie für den christlichen Glauben zu gewinnen. Zugleich kritisierte er die widersprüchliche und willkürliche Rechtspraxis in den Territorien sowie die ›arbeitsrechtliche‹ Benachteiligung der Juden. Vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten hätten schwer darunter zu leiden, dass die Territorialherren den Juden hohe Steuerforderungen auferlegten, die diese dann durch überhöhte Zinsforderungen an die Bevölkerung weiterleiteten.
Neben der unangemessenen Bedrückung der Juden kritisierte Bucer aber auch, dass reichere Juden in einigen Landregionen angeblich ihre wirtschaftliche Vormachtstellung ungehindert ausüben könnten. Diese widersprüchlichen Bedingungen, denen die Juden ausgesetzt seien, wären nicht dazu angetan, ihre Bekehrung zu fördern. Vielmehr würden sie dadurch religiös und moralisch entfremdet.
Bevor man dafür von Gott zur Rechenschaft gezogen werde, sei es deshalb Aufgabe der christlichen Obrigkeiten, die Juden im Blick auf ihre Bekehrung zuvorkommend zu behandeln. Wenn diese aber hartnäckig bei ihrem Unglauben blieben, solle man ihnen Gottes Fluch (Dtn 28,15ff) in Erinnerung rufen und sie zu Tätigkeiten anhalten, bei denen sie niemanden mehr in wirtschaftlicher oder religiöser Hinsicht schaden könnten. Auf diese Weise sollten sie zur Annahme des christlichen Glaubens gedrängt werden.
Bucer machte schon 1534/35 keinen Hehl daraus, dass er das Judentum in religiöser und ökonomischer Hinsicht als eine Gefahr für die christliche Bevölkerung betrachtete. Entsprechend seinem Verständnis der Respublica Christiana drängte er darauf, die Juden als Ungläubige aus dem christlichen Gemeinwesen auszugrenzen. Sie sollten von den öffentlichen Ämtern und der Gemeinschaft des bürgerlichen Lebens ausgeschlossen bleiben.
Wenn Bucer sich dennoch bereit zeigte, die Juden aufgrund ihrer biblischen Wurzeln zu dulden, dann nur zum Zwecke ihrer Missionierung und nur unter harten Bedingungen. Vor allem forderte er, ihre Erwerbstätigkeit auf die Sicherung des Existenzminimums zu beschränken und ihrer religiösen Betätigung enge Grenzen zu setzen. Für den Fall, dass Juden Christen in ihrem Glauben verunsicherten oder bloßstellten, drohte er mit Enteignung und Vertreibung.
Vor diesem Hintergrund sind die harten Maßnahmen, die Bucer 1538 in seinem ›Judenratschlag‹ empfahl, keineswegs überraschend. Dieser Ratschlag wurde im Wesentlichen von Bucer ausgearbeitet und stellte einen Kompromiss dar zwischen der Duldungsabsicht des Landgrafen Philipp von Hessen (1504-1567) und den hessischen Geistlichen und Zünften, die von einer Duldung abrieten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen basierten auf der Grundannahme Bucers, dass die Obrigkeit im Dienste der wahren Religion alle Ungläubigen aus dem christlichen Gemeinwesen auszugrenzen habe.
Unter dieser Prämisse kam der Judenratschlag zu dem Ergebnis, dass von der jüdischen Gemeinschaft zahlreiche Gefahren ausgehen würden – vor allem für ärmere und ungebildete Kreise. Genannt wurden z.B. Wucher, Betrug, Bestechung, Proselytenmacherei, Lästerung und Verunsicherung des christlichen Glaubens. Angesichts dieser Gefahren betrachtete der Ratschlag die Vertreibung der Juden als angemessene Lösung; nur unter härtesten Bedingungen sei überhaupt eine Duldung zu verantworten. Und das bedeutete: Handels- und Wucherverbot für Juden, Ausschluss von öffentlichen Ämtern, einkommensgestaffelte Schutzgeldbestimmungen, Enteignung reicher Juden, Zwangsarbeit mit den allerniedrigsten Verrichtungen, Verbot des Baus neuer Synagogen, Verbot talmudischer Schriften, Verpflichtung zum Judeneid und zur Teilnahme an judenmissionarischen Predigten. Ein Verstoß gegen diese Bestimmungen wurde mit Vertreibung bzw. Todesstrafe bedroht.
Diese Vorschläge waren für die hessische Judenordnung von 1539 maßgebend, und Bucer untermauerte seine Vorschläge eigens mit einer Rechtfertigungsschrift. Darin betonte Bucer, dass die Juden aufgrund ihrer Herkunft und im Blick auf ihre künftige Bekehrung besser behandelt werden sollten als die anderen Ungläubigen. Und er verwies darauf, dass alles im Rahmen der ›Liebe‹ und des geltenden Rechts zu geschehen habe. Doch oberstes Prinzip war für ihn nun, dass es keinem Ungläubigen besser ergehen dürfe als dem allerärmsten Christen.
Diese schroffen Aussagen lassen wenig übrig von dem Exegeten Bucer, der auf der Basis der Bundeseinheit die bleibende Erwählung von Juden behauptet hatte. Auch von der Forderung, die Juden im Hinblick auf eine mögliche Bekehrung nachsichtig zu behandeln, ist Bucer in seinen Äußerungen zum Judenratschlag deutlich abgewichen.
Die Gründe für diesen ›Wandel‹ Bucers sind vielfältig. Zu nennen sind hier zum einen die Rezeption antijüdischer Schriften und die Berücksichtigung hessischer Interessengruppen. Zum anderen sind Gerüchte über ›judaisierende‹ Irrlehren (Antitrinitarier, Sabbatarier, Chiliasmus) von Bedeutung sowie die zunehmende soziale Polarisierung in der Bevölkerung zu Beginn der dreißiger Jahre. Vor allem der letzte Punkt scheint für Bucer entscheidend gewesen zu sein. Denn in den dreißiger Jahren beschäftigte sich der Straßburger Reformator zunehmend mit den sozialen Folgen des Wuchers und verwies immer wieder auf die Gefahren, die die gängige Praxis für ärmere Bevölkerungsschichten mit sich brächte.
Auch Jean Calvin (1509-1564) übernahm die in Zürich und Straßburg gelehrte Einheit des Alten und Neuen Bundes. In seiner »Institutio« von 1539 formulierte er den Grundsatz: »Der Bund mit allen Vätern unterscheidet sich von dem unsrigen so wenig in der Substanz und in der Sache selbst, dass er ganz und gar ein und derselbe ist; nur die [äußere] Verwaltung ändert sich.« Genauso wie Zwingli, Bullinger und Bucer ging es Calvin unter anderem darum, die Kontinuität des Alten Bundes zu behaupten, um die Kindertaufe gegenüber täuferischen Gruppen aus der (Kinder-)Beschneidung herzuleiten.
Die These von der Bundeseinheit diente also vorrangig der innerchristlichen Diskussion; das Judentum kam hier nur indirekt in den Blick. Gleichwohl sah Calvin wie Bucer die Notwendigkeit, Gottes Treue im Bund mit dem jüdischen Volk und das bleibende ›natürliche‹ Vorrecht der Juden zu konstatieren, um theologisch an der Einheit des Bundes festhalten zu können. Zugleich betonte Calvin die Unterscheidung zwischen dem jüdischen Volk als Ganzem und einzelnen Juden. Dies ermöglichte es ihm, die widersprüchlichen paulinischen Aussagen zur Verwerfung, Verstockung und bleibenden Erwählung der Juden miteinander zu vereinbaren.
Die bleibende Erwählung des Gesamtvolkes sah Calvin darin begründet, dass Gottes Gnade immer einen erwählten Rest im Volk übriglasse. Durch einige Juden, die fest an die Verheißung glaubten, bleibe die Bundesgnade im jüdischen Volk erhalten. Für diese wenigen erwählten Juden werde die Gnade des Bundes allerdings nur wirksam, sofern sie sich zu Christus bekehrten, durch den der Bund erneuert und bekräftigt worden sei. Calvin wandte sich deshalb auch gegen Vorstellungen, dass im Heilsplan Gottes für das jüdische Volk noch eine besondere Rettung vorgesehen sei. Die entsprechenden Aussagen des Paulus, die etwa von Capito und Bucer in diesem Sinne verstanden wurden, deutete er stattdessen als eine Verheißung für die Kirche aus Juden und Heiden.
Abgesehen von diesen theologischen Diskursen zeigte Calvin in seiner Frühphase wenig Interesse am zeitgenössischen Judentum. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass Calvin bis 1538 hauptsächlich mit dem Fortgang der Reformation in Frankreich und dem Aufbau einer reformatorischen Kirche in Genf beschäftigt war. Hinzu kam, dass der junge Calvin nur über geringe Hebräisch-Kenntnisse verfügte und nur an wenigen Orten mit einem zeitgenössischen Judentum konfrontiert wurde (so z.B. in Ferrara und evtl. in Basel).
Gleichwohl teilte Calvin in seiner Frühphase die traditionelle Auffassung, dass die Juden ohne Christus verloren seien. Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit Ketzerverfolgungen in Frankreich wandte er sich jedoch in der »Institutio« von 1536 gegen die Zwangsmaßnahmen einer inhumanen Missionspraxis. Er begründete dies mit der Lehre von der verborgenen Erwählung Gottes; sie markierte für Calvin einen kritischen Vorbehalt gegenüber der These einer endgültigen Verwerfung von ›Nichtgläubigen‹ und der traditionellerweise daraus abgeleiteten Repressionspraxis.
Erst in der Straßburger Zeit (1538-1541) wurde Calvin dann intensiver mit der Existenz jüdischen Lebens und jüdischer Kultur konfrontiert. Bei seinen Aufenthalten in Frankfurt a.M., Hagenau und Worms (1539/40/41) stieß Calvin auf größere jüdische Gemeinden. Zudem hatte die (theologische) Auseinandersetzung mit dem Judentum im Wirkungsraum der Straßburger Reformation einen größeren Stellenwert als etwa in Frankreich und Genf, wo schon seit Jahrzehnten keine Juden mehr lebten.
Vor allem durch die Auseinandersetzungen um Bucers Judenratschlag (1538/39) dürfte Calvin in Straßburg für die Fragen einer Duldung von Juden sensibilisiert worden sein. Neben der intensiven Beschäftigung mit dem Römerbrief wird vor allem der freundschaftliche Austausch mit Capito und Bucer ein Übriges dazu beigetragen haben, Calvin auf die besondere Relevanz des Themas aufmerksam zu machen. Denn sowohl Bucer als auch Capito haben sich – wie gesehen – in ihren Schriften intensiv mit der theologischen Verhältnisbestimmung zum Judentum auseinandergesetzt.
Calvins Kritik an den Zwangsmaßnahmen einer inhumanen Missionspraxis (s.o.) war in der Überarbeitung der Institutio von 1539 jedoch weggefallen. Stattdessen bemühte sich Calvin, das Verhältnis zum Judentum auf der Basis des Römerbriefes zu entfalten. Hier hielt Calvin fest, dass der Großteil der Juden zwar verworfen sei, man sie aber um einiger Erwählter willen nicht verachten dürfe.
Insgesamt blieb Calvin in seinen Äußerungen über das zeitgenössische Judentum zurückhaltend. Gleichwohl scheute er nicht davor zurück, auf antijüdische Stereotype, wie z.B. auf das des jüdischen Hostienfrevels, zurückzugreifen. Verglichen mit dem Judenratschlag Bucers blieb Calvin jedoch von der antijüdischen Haltung seines Straßburger Kollegen und Freundes weit entfernt. Dies bedeutete jedoch nicht, dass Calvin die antijüdischen Maßnahmen des Judenratschlags ablehnte oder gar wie Capito für eine Duldung der Juden eintrat.
Für ihn standen aber eindeutig nicht Zwangsmaßnahmen im Vordergrund, sondern theologische Überlegungen. Dazu gehörte die Auffassung, dass Gott die Juden mit Blindheit geschlagen habe und deshalb nur bei einzelnen Juden Hoffnung auf eine Bekehrung bestehe. Das größte Hindernis für die Bekehrung sah Calvin in der jüdischen Schriftauslegung, durch die das christologische Verständnis des Alten Testaments unterdrückt würde.
Die Frage der jüdischen Schriftauslegung blieb für Calvin denn auch zeitlebens ein kritischer Punkt. Vor allem in späteren Jahren verschärfte sich der Ton in Calvins Äußerungen; dies gilt insbesondere für seine Predigten und seine alttestamentlichen Kommentare. Die einzig erhaltene Abhandlung Calvins, in der er sich explizit mit dem Judentum auseinandergesetzt hat, trägt den Titel »Zu den Fragen und Einwürfen irgendeines Juden«.
Sie ist in den letzten Lebensjahren Calvins entstanden. Calvin beschäftigte sich darin mit jüdischen Disputationsargumenten. Seine Absicht war es, seinen christlichen Lesern für eine Disputation mit Juden die nötigen Argumente zu liefern. Dabei zeigte er insgesamt wenig Verständnis für die jüdischen Einwände. Er benutzte eine Fülle von abschätzigen Begriffen, um die Juden und ihre »stumpfsinnige Dummheit« zu benennen.
Insgesamt ist also festzuhalten, dass die Reformatoren Zwingli, Bullinger, Capito, Bucer und Calvin gemeinsam die ›reformierte‹ Position einer Einheit des Alten und Neuen Bundes vertreten haben. Diese Bundestheologie diente der Auseinandersetzung im innerchristlichen Diskurs und hat zugleich die theologische Verhältnisbestimmung zum Judentum geprägt. Um die Kontinuität zum Alten Bund zu sichern, war es für die Reformatoren wichtig zu unterstreichen, dass einige Juden bleibend erwählt seien und zum Glauben an Christus gelangen würden.
Zugleich wurde das Judentum aber mehr oder weniger als verworfen und durch die Kirche (aus Juden und Heiden) ersetzt betrachtet. Im Blick auf die Konsequenzen für das zeitgenössische Judentum kamen die genannten ›reformierten‹ Reformatoren zu keinem einheitlichen Ergebnis. Die Auffassungen reichten von einem Eintreten für die Duldung von Juden (Capito) über ein weitgehendes Desinteresse an judenpolitischen Maßnahmen (Zwingli und Calvin) bis hin zum Abraten von einer Duldung (Bullinger) und den massiven antijüdischen Maßnahmen in Bucer ›Judenratschlag‹.
Vor allem das Beispiel Bucers zeigte, dass das Verhältnis zum Judentum in der Reformationszeit keineswegs allein auf der Basis theologisch-exegetischer Erkenntnisse bestimmt wurde. Vielmehr konnten exegetische Einsichten von antijüdischen Stereotypen überlagert und den praktischen Erfordernissen und Interessen untergeordnet werden. Zudem zeigte Bucers ›Judenratschlag‹, dass massive antijüdische Ausfälle schon vor Luthers späten Judenschriften präsent waren.
Der harte Maßnahmenkatalog Bucers gab zwar vor, im Blick auf die Duldung von Juden formuliert zu sein, doch wäre die Durchführung letztlich einer Vertreibung gleichgekommen. Der Unterschied zu Luthers Judenschriften lag jedoch darin, dass der Wittenberger Reformator im Grunde zum ›Landfriedensbruch‹ aufrief, wenn er zur Zerstörung von Synagogen, jüdischen Schule und Häusern aufforderte und sogar die Tötung von Juden als Reaktion auf die angebliche Ermordung Christi und den angeblichen Ritualmord an Kindern für ein angemessenes Mittel hielt.
Die Reaktionen von reformierter Seite auf Luthers späte Judenschriften zeigen, dass diese eindeutig als eine Grenzüberschreitung empfunden wurden. Sogar Bucer sprach von »überaus bitteren und abstrusen Schriften Luthers«. In Straßburg wurden die Judenschriften 1543 auf Betreiben Josels von Rosheim verboten; der Stadtrat beschloss, den Nachdruck der Judenschriften zu verbieten, und untersagte den Predigern, gegen die Juden zu hetzen.
Hinzukam, dass Luthers Judenschriften nicht nur gegen Juden polemisierten, sondern auch die reformierten Hebraisten in Zürich, Basel und Straßburg angriffen. In einer besonders geschmacklosen Passage warf Luther ihnen vor, sie würden den Rabbinern zu viel nachgeben. Stattdessen sollten die oberdeutsch-schweizerischen Hebraisten ihm lieber dabei behilflich sein, das Alte Testament von der ›Judaspisse‹, d.h. von den rabbinischen Verfälschungen, zu reinigen.
Für den Zürcher Reformator Bullinger war hiermit eine Grenze überschritten. Bullingers Verhältnis zum Wittenberger Reformator war damals bereits nachhaltig gestört. Nicht nur der Abendmahlsstreit hatte tiefe Narben hinterlassen, auch der gehässige Kommentar, mit dem Luther auf die Zusendung der Zürcher Bibelübersetzung reagierte, wurde in Zürich als ein beispielloser Affront empfunden. Es ist darum nicht verwunderlich, wenn Bullinger den Veröffentlichungen Luthers mit großem Vorbehalt gegenüberstand. Überraschend ist jedoch, mit welchem Nachdruck Bullinger die Judenschriften Luthers als kontraproduktiv und unsachgemäß zurückgewiesen hat. In einem Brief an Bucer schrieb er am 8. Dezember 1543:
»Ja, die meisten Menschen beten sogar jene bissige und ekelhafte Beredsamkeit [Luthers] an. Folglich fährt jener fort und versucht, sich geradezu selbst an Gehässigkeit zu überbieten. Er schreibt gegen die Juden und predigt zugunsten unseres heiligen, christlichen Glaubens weder gänzlich unpassend noch unnütz, aber er hat durch seine dortigen schändlichen Sprüche und durch ein leichtfertiges Gerede, das niemandem, geschweige denn einem bejahrten Theologen ansteht, den nutzbringenden und dankbaren Gegenstand in einen unerfreulichen, ja geradezu unangebrachten, verkehrt.
Aber auch wenn wir einräumen mögen, dass man wegen des vielen Nützlichen und Brauchbaren, das in diesem Buch enthalten ist, unberücksichtigt lassen soll, dass einiges außerordentlich ungeeignet ist, wer, bitte, könnte das in überaus abscheulicher Weise geschriebene Buch ›Vom Schem Hamphoras‹ ertragen oder gutheißen? Wer erstarrt nicht im Hinblick auf jenen anmaßenden und rücksichtslosen Menschengeist, der sich in ›Von den Letzten Worten Davids‹ in unverschämter Weise gebärdet?
Wenn heute jene herausragende Autorität Reuchlin wiedererstünde, würde er sagen, in dem einen Luther seien die [Inquisitoren] Tongern, Hochstraten und Pfefferkorn wieder lebendig geworden, mit so mörderischem Hass greift er die hebräischen Kommentatoren an und verreißt sie. Davon einmal abgesehen mag man sich jenes unbändige Wüten gefallen lassen, wenn er in dieser Abhandlung nur die Glaubwürdigkeit und das ehrwürdige Ansehen der biblischen Schriften unangetastet ließe. Er bestreitet sogar, dass die Biblia Hebraica zuverlässig und unzweifelhaft sei; er bestreitet, dass diesen [Schriften] ein genuin christlicher Sinn entnommen werden könne.
Er fügt hinzu, dass sie von den Rabbinen verfälscht seien. Er gibt zu, dass er die Deutsche Bibel nicht unvoreingenommen genug übersetzt habe, bloß zieht er diese Übersetzung nicht zurück. Bedenke, verehrter Bruder Bucer, wie viel Anstoß er dadurch auch bei sehr erfahrenen Lesern erregen dürfte. Ich werde nicht mit wenigen Worten aufgezählt haben das Widersinnige, Falsche und Verdrehte, das sich in dieser Ansicht Luthers zeigt.
Letztendlich verweist er gar für die Wiederherstellung und Verbesserung der biblischen Schriften auf irgendeinen Bernhard Ziegler [Hebraist und Professor in Leipzig]; ja, so als ob sich unser Glaube auf diesen stütze und die ganze Kirche diesem einen Menschen [darin] Glauben schenken müsse, dass sie neben dem Kanon Luthers der ›Hebräischen Wahrheit‹ weder vertrauen kann, noch muss. Ja, bald wird nicht [mehr] von ›Hebräischer Wahrheit‹, sondern von ›jüdischem Wahn‹ die Rede sein.
So weit ist es nämlich mit dem maßlosen Charakter dieses Menschen dadurch gekommen, dass alle Amtskollegen und Diener der Kirchen selbst jede beliebige Schrift [Luthers] als Orakel anbeten, [und] dadurch dass sein Geist gleichsam als ein apostolischer gepriesen wird, aus dessen Fülle alle empfangen haben. Wahrhaftig muss aufgrund des bisher Vorgefallenen befürchtet werden, dass dieser Mensch noch einmal großes Unglück über die Kirche bringen wird.«
Auch wenn Bullinger hier den Judenschriften manches Nützliche attestiert, so ist doch deutlich zu erkennen, dass drei Aspekte Bullingers Reaktion herausgefordert haben: Erstens das kontraproduktive Vorgehen und der inquisitorische Eifer Luthers, zweitens dessen theologisch und philologisch unredliche Umgang mit der Hebräischen Bibel und drittens Luthers verantwortungslose Stimmungsmache.
Auch wenn Bullinger mit dem letzten Punkt weniger Luthers antijüdische Polemik im Blick gehabt haben dürfte, sondern vor allem die gegen Zürich gerichteten Anfeindungen, so wird doch deutlich, dass Bullingers Kritik an Luther nicht nur durch die persönliche Abneigung gegen Luther motiviert war, sondern auch in der anders gelagerten Auffassung von der Einheit des Alten und Neuen Testamentes ihren Grund hatte.