Unter dem Bogen
Predigt zu Genesis 8 und 9 am 25. Oktober 2020 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Ich schlage die Zeitung auf und mir wird schon beim Frühstück ein bisschen komisch. Die Infektionszahlen steigen rasant, die Kurve tut, was sie besser nicht tun sollte, steil nach oben weisen. Noch kann man sich damit trösten, dass es in allen europäischen Ländern schlimmer aussieht als bei uns. Aber so richtig beruhigend ist das nicht. Der Kaffee schmeckt schon morgens bitterer als sonst. Wir leben in bedrohlichen Zeiten.
Schon häufiger ist mir seit Beginn der Pandemie die Frage gestellt worden, ob das alles etwas mit Gott zu tun hat. Ist die Pandemie eine Strafe Gottes? Und wenn ja, wofür genau? Es gibt solche Gedanken auch in einer nicht religiösen Ausprägung, in der Frage, ob vielleicht die Natur – Schöpfung sagt man dann ja eher nicht – jetzt zurückschlägt und sich rächt für alles, was ihr die Menschen angetan haben.
Je bedrohlicher die Lage, desto größer wird die Sehnsucht nach Erklärungen. So verstehe ich auch das Aufkommen all der absurden Verschwörungstheorien in den vergangenen Monaten. Eine Erklärung zu haben und sei sie noch so verworren, das nimmt etwas von der Angst. In der Bibel wird in den Geschichten vom Anfang erklärt, warum die Welt so ist, wie sie ist. Es wird erzählt, wie Gott den Himmel und die Erde, die Tiere und die Menschen erschafft und in einen Garten setzt. Wie die Menschen das Paradies verlassen müssen und dass ihr Leben seitdem Mühe und Arbeit ist. Es wird auch nicht verschwiegen, was Menschen einander antun können, in der Geschichte von Kain und Abel, in der ein Bruder den anderen erschlägt. Und jeder, der diese Geschichten in den ersten Kapiteln der Bibel liest, bekommt den Eindruck: Das mit den Menschen geht irgendwie in eine falsche Richtung.
Ist es da ein Wunder, dass Gott plötzlich bereut, dass er die Menschen gemacht hat? „Der HERR sah, wieviel Unheil die Menschen überall auf der Erde anrichteten. Bei all ihrem Denken und Planen kam stets nur Böses heraus. Er bereute, dass er sie gemacht und ihnen die Erde anvertraut hatte.“ Gott will das traurige Experiment „Mensch“ beenden. Aber schon am Anfang der Geschichte von der Sintflut zeigt sich Gott bemerkenswert inkonsequent:
Alle Menschen sollen sterben – aber Noah nicht. Und Noahs Frau. Und seine Söhne. Und natürlich auch seine Schwiegertöchter. Und auch die Tiere sollen eigentlich alle sterben. Aber dann dürfen sie doch alle mitkommen, zwar nur zwei von jeder Art, aber bitte immer ein Männchen und ein Weibchen. Wie jedes Kind weiß, ist damit die Zukunft so gut wie gesichert.
Es ist kein Wunder, dass die Arche Noah so viele Bilderbücher und Kinderzimmer schmückt: Der fröhlich-bunt ausgemalte Einzug all der Menschen und Tiere in die Arche ist so eine Art Demonstration der Inkonsequenz Gottes. Eine Inkonsequenz aus Liebe, mit der auch jedes Kind bei seinen Eltern rechnen kann und rechnen können sollte. Gut, wenn das auch auf der Kinderzimmertapete und der Bettwäsche noch einmal zu sehen ist.
Und wie Eltern ihrem Kind gute Nacht sagen und später noch einmal schauen, ob es auch gut zugedeckt ist, so macht Gott dann die Arche hinter Noah und seiner ganzen Mannschaft sorgfältig zu.
„Vierzig Tage lang strömten die Fluten vom Himmel herab auf die Erde. Das Wasser stieg an und hob die Arche empor, und sie begann zu schwimmen …Gott vernichtete alles Leben auf der Erde: Sämtliche Menschen, Landtiere, Kriechtiere und Vögel wurden ausgelöscht. Nur Noah und alle, die bei ihm in der Arche waren, blieben verschont.“ So kam es. Und dann ist alles wieder trocken. Die Wolken haben sich verzogen, die Wasser haben sich verlaufen. Es kann nur am Morgen gewesen sein und bestimmt war es Frühling. Ein Morgen wie ein erster Tag: Ein Neuanfang.
Also verließ Noah mit seiner Frau, seinen Söhnen und seinen Schwiegertöchtern das Schiff. Dann baute Noah für den HERRN einen Altar. Der HERR roch den besänftigenden Duft des Opfers und sagte sich: Nie wieder werde ich der Menschen wegen die Erde verfluchen! Nie wieder werde ich alles Leben vernichten, wie ich es getan habe. Von nun an gilt: Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht werden nicht aufhören, solange die Erde besteht.
Noah kommt genauso aus der Arche, wie er hineingegangen ist. Mit seinen Söhnen und seiner Frau und den Frauen seiner Söhne. Wir hören kein Wort von ihm, kein bisschen Erleichterung darüber, dass die lange Zeit der drangvollen Enge in der dunklen Arche endlich vorbei ist. Ein einziges Fenster, armbreit, war in die Arche eingebaut, für das Allernötigste an Luft und Licht.
Und nun endlich das Morgenlicht und frische Luft. Noah atmet ein. Noah blinzelt. Aber sagen tut er nichts. Dieser wortkarge Kapitän drückt seine Dankbarkeit anders aus. Als allererstes baut er einen Altar und bringt Gott ein Opfer. Still steigt der Rauch auf an diesem klaren Morgen, kerzengerade in den Himmel hinein. Und in diesem Rauch ist eine stumme Frage: Bist du noch da, Gott?
Gott ist noch da. Gott riecht die Rauchzeichen von der Erde. Und hört die stumme Frage darin. Gott hatte bereut, dass er die Menschen gemacht hat, vor der Sintflut. Es hatte Gott im Herzen bekümmert. Nun spricht Gott zu sich selbst, in seinem Herzen. Ganz leise, eigentlich unhörbar. Aber irgendjemand muss es doch gehört haben und hat es uns aufgeschrieben, zum Glück.
Denn es ist nun einmal so, dass ihre Gedanken zum Bösen führen, und zwar schon von Kindheit an. Das sagt Gott zu sich selbst. Es sind genau die gleichen Worte wie vor der Sintflut. Die Menschen haben sich nicht geändert. Auch Noah ist ein Beispiel dafür. Der war vorher schon fromm und gut. Er ist es immer noch. Aber er ist auch sonderbar unberührt geblieben von all dem grausamen Tod um ihn herum. Er hat seine eigene wunderbare Rettung genauso hingenommen wie den Tod aller anderen Menschen. Kein Versuch von ihm, Gott zum Bau einer zweiten Arche zu überreden, damit noch mehr Menschen gerettet werden. Auch in diesem guten Menschen ist tief innendrin viel Gleichgültigkeit.
In Gottes Herzen sieht es anders aus. Da ist keine Gleichgültigkeit. Die Menschen ändern sich nicht. Das ist Gott klar. Aber es ist Gott nicht egal. Gott spricht zu sich: Nie wieder werde ich der Menschen wegen die Erde verfluchen! Denn die Menschen ändern sich nicht. Also ändert sich Gott. Deswegen gibt es einen neuen Anfang für seine Menschen.
Die Wasser haben sich verlaufen und die Wolken haben sich verzogen. Die Sonne kommt durch. Am Himmel ein leuchtender Bogen aus siebenfachem Licht. Und wer Augen hat zu sehen, der liest in diesem Bogen die Worte: Von nun an gilt: Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht werden nicht aufhören, solange die Erde besteht.
Ich liebe diese Worte sehr. Weil ich ein Bauernkind bin vielleicht. Und weil ich diese Worte nie nur gehört habe. Ich konnte sie sehen und fühlen und schmecken und riechen: Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. Die Schöpfung war mein Kinderzimmer und all das Wunderbare darin. Und das Versprechen. Es wird nie aufhören mit uns Menschen, nie. Denn Gott ist da.
Wir leben aus der Inkonsequenz Gottes. Wir sind seine Ebenbilder und spüren wie Gott tief im Herzen den Kummer über die Menschen und gleichzeitig die Liebe zu diesen Menschen. Sie werden geboren und sterben auf dieser Erde und werden nicht klug, nie. Unter diesen Menschen gibt es immer wieder Fromme und Gute, aber auch viel zu viele Gleichgültige. Diese Menschen kommen nicht recht weiter mit dem Frieden und der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung, obwohl sich so viele von ihnen sehr mühen.
Noah kam an diesem einen Morgen aus der Arche, mit all den Menschen und Tieren, die er inkonsequenter Weise doch mitnehmen durfte. Seitdem leben wir Menschen unter einem leuchtenden Bogen. Seinen Anfang und sein Ende hat noch niemand finden können. Wir stehen immer staunend davor. Und Gott auch. Gott sagt zu sich: Der Regenbogen wird in den Wolken stehen, und wenn ich ihn sehe, werde ich an den ewigen Bund denken, den ich mit allen Lebewesen auf der Erde geschlossen habe.
Als Gottes Ebenbilder zu leben heißt für mich: Das alles sehen und spüren, sich davon im Herzen berühren lassen - und trotzdem nicht gleichgültig werden. Festhalten daran, dass es eine Zukunft und eine Hoffnung für uns alle gibt und für die schöne Erde, auf der wir leben. Es hat aufgehört zu regnen und die Sonne kommt durch.
Am Himmel steht ein leuchtender Bogen.
Niemand hat je seinen Anfang gesehen.
Und niemand sein Ende.
Amen.
Kathrin Oxen
Kathrin Oxen, Moderatorin des Reformierten Bundes, gibt Ihnen auf reformiert-info.de jeden Sonntag Materialien für den Gottesdienst für Zuhause, dazu eine aktuelle Predigt.