Ein Buch, das in der aktuellen Ausgabe der Zeit angekündigt wird, beschäftigt sich mit der Selbststilisierung zum Opfer am Beispiel von Donald Trump und anderen zeitgenössischen Politikern und Politikerinnen. Ein aktuelles (in dem Buch natürlich nicht mehr berücksichtigtes) Beispiel ist das abgebrochene ZDF-Interview des AfD-Politikers Björn Höcke.
Matthias Lohre ist Journalist und beschäftigt sich gerne mit Rollenbildern. Und so geht er dem Opferbegriff, seiner Verwendung und Wirkung auf den Grund: Warum wir uns nach Opfern sehnen und uns von ihnen angezogen fühlen. Wie sich Opfer zum Erlöser wandeln können und wie sie aus dem Status als Opfer zielstrebig an die Macht gelangen.
Diese Mechanismen zeichnet er an einigen historischen und aktuellen Beispielen nach. So haben die Nationalsozialisten ihren Machtanspruch stets mit Opferbildern begründet. Erst mit der innerdeutschen Lügenpresse, die den Deutschen die Wahrheit vorenthalte, und später mit den ausländischen Mächten, die angeblich Deutschland klein halten wollten. Und nicht zuletzt wurden die Juden als übermächtige Weltverschwörer bezeichnet, derer man sich erwehren müsse. Noch in den Nürnberger Prozessen haben sich KZ-Aufseher zu Opfern erklärt.
Solche Argumentationen sind zwar zynisch, funktionieren aber immer wieder. Und sie werden immer schon dann gefährlich, wenn der Punkt überschritten ist, bis zu dem das Opfer möglicherweise tatsächlich noch einen Grund zum Klagen hatte. Wenn Pegida-Anhänger in die Kameras öffentlich-rechtlicher Sender brüllen, dass "man ja in diesem Land seine Meinung nicht offen sagen dürfe", fällt ihnen scheinbar nicht einmal auf, wie absurd die Situation ist.
Ähnlich steht es um den amerikanischen Präsidenten, der so ziemlich alles an Macht und Annehmlichkeiten erreicht hat, was sich ein Mensch nur denken kann, und der sich trotzdem permanent als Opfer der Medien, der Opposition und ausländischer Kräfte bezeichnet. Dieses jüngste Beispiel zeigt, wie gut es funktioniert, sich machtlos zu geben und sich damit Macht zu verleihen.
Der Anstoß aus diesem Buch hat mich über den christlichen Umgang mit dem Begriff des Opfers zum Nachdenken gebracht. Schließlich ist Jesus Christus das wohl prominenteste Opfer der Menschheitsgeschichte und seine vermeintliche Opferung am Kreuz das Narrativ unserer Religion.
Immer wieder werden Zweifel daran laut, ob die Kategorie des Opfers wirklich die richtige ist. Die Besänftigung des zornigen Gottes durch das Sterben seines Sohnes wird zwar in dieser Form selten mehr gepredigt, der Gedanke aber auch nicht verabschiedet. Weniger grausam, dafür aber schwer verständlich, ist die Deutung, Gott habe sich selbst in Gestalt seines Sohnes geopfert, um den Tod zu besiegen.
Dass zwischen dem Opfer und dem Sieg, also der Auferstehung, nur drei Tage liegen, macht es nicht leichter. Nach außen sieht es so aus, als würde die christliche Religion ihren Religionsgründer zum Opfer stilisieren, um ihn dann als Helden zu feiern.Zu diesem Eindruck tragen die Darstellungen Jesu am Kreuz nicht unwesentlich bei.
Jesus selbst war freilich weit davon entfernt, seinen Tod zu instrumentalisieren, um Mitleid zu heischen oder gar den Helden zu spielen. Das würde ja auch so gar nicht zu seinem Gebaren und seinen Reden passen. Genau deshalb bin ich dem Opferbegriff gegenüber kritisch und kommt mir das Wort nicht so leicht über die Lippen. Opfer und Helden sind Kategorien, die beide nicht passen. Nicht auf Jesus. Und auch nicht auf uns.
Matthias Lohre, Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben. Gütersloh 2019, 22,00 €
Kommentar vom 10. Oktober 2019:
Lieber Herr Rieger,
Ihnen möchte ich danken für Ihre kluge Mittwochskolumne der vergangenen Woche, in der Sie sich meines neuen Buchs "Das Opfer ist der neue Held" angenommen haben. Sie haben meiner Meinung nach wichtige Punkte daraus anschaulich und abwägend auf den Punkt gebracht.
Schöne Grüße aus Berlin, Matthias Lohre