Alles Lüge!

Einspruch! Mittwochskolumne von Georg Rieger

Foto: Rieger

Im Zeitalter von Fake News und Verschwörungstheorien stellt sich die Frage nach der Wahrheit neu. Oder ist es doch eine ganz alte Frage?

Rio Reiser, der ehemalige Sänger von Ton Steine Scherben, nahm 1986 ein Lied mit diesem Titel auf und lässt darin nur einige Wahrheiten gelten: zum Beispiel, dass Hamburg nicht die Hauptstadt von McDonald‘s ist. Alles andere ist Lüge. Eigentlich geht es ihm freilich um etwas anderes – um die Liebe:

Selbst wenn du mich fragst, ob ich dich liebe und ich sag ja
Weiß ich manchmal nicht genau, ist das nun Lüge oder wahr
Weil ich oft gar nicht mehr weiß, was ist das: Liebe.

So ganz einfach ist das mit Wahrheit und Lüge und mit der Liebe nicht. Zwar legen wir in unseren Familien, Partnerschaften und Freundschaften Wert auf Ehrlichkeit. Aber wir erzählen nicht allen Alles. Heimlichkeit ist auch ein Stück Autonomie. Wie „wahr“ eine Liebeserklärung im Moment ihrer Äußerung ist, bleibt auch letztlich undurchschaubar. Sie bewährt sich eher durch die Vielzahl der einander zugewandten Momente. Doch einander die Unwahrheit ins Gesicht zu sprechen gilt als Vertrauensbruch und markiert nicht selten das Ende einer Beziehung.

Auch im Alltag ist Skepsis gegenüber bestimmten Botschaften angebracht. Die Werbung blendet uns mit Vorteilen, die sich manchmal nicht einmal ansatzweise bewahrheiten. Doch wir können uns nicht über alle Produkteigenschaften kundig machen und sind auf Informationen angewiesen. Und in unserer Lust auf Neues und Statussymbole lassen wir uns gelegentlich gerne blenden.

Und schließlich ist ein weiteres Feld, in dem sich Wahrheit und Lüge gegenüberstehen, die Politik. Politikerinnen und Politiker versprechen meistens mehr als sie halten können. Hannah Arendt hat 1971 in dem Aufsatz „Die Lüge in der Politik“ festgestellt, dass politisches Handeln davon lebt, dass Dinge nicht so präsentiert werden, wie sie sind. Und sie hat insofern Verständnis dafür, weil in der Politik gehandelt werden müsse, auch wenn eine Sache nicht vollständig überschaut werde. Bis zu einem gewissen Maß mag das Übertreiben, Verschweigen und Fälschen also zum Geschäft zu gehören.

Trotzdem war es nach den beiden Weltkriegen, in denen ganze Völker mit Lügen gegeneinander aufgehetzt worden waren, klar: Nie wieder! Das bezog sich nicht nur auf den Krieg und den Holocaust, sondern auch auf die Propaganda, also den Aufbau einer politischen Ideologie auf unwahren Behauptungen. Seither war es üblich, dass Politiker, die des Lügens überführt wurden, ihren Rücktritt einreichten.

Seit einigen Jahren hat aber die Lüge als unverblümtes politisches Instrument wieder Einzug gehalten. Die Begründung des Irak-Krieges war eine Lüge, die immerhin noch geheim gehalten wurde. Der amtierende US-Präsident macht sich diese Mühe nicht mehr. Er erzählt ohne mit der Wimper zu zucken, was ihm in den Kram passt.

Noch schlimmer als Lügen

Das nennt die Wiener Philologin Eva Horn Schwätzen. Es ist die gesteigerte Form des Lügens, wenn die Wahrheit überhaupt nicht mehr kümmert und der entsprechende Widerspruch einfach ignoriert wird. „Geschwätz ist es, zu reden, ohne genau zu überschauen, was der Tatsachengehalt dessen ist, was man vorträgt. (...) Gläubigkeit und Erregung sind die kalkulierten Effekte des Schwätzens; sie bündeln die Aufmerksamkeit und machen das Fragen in eine andere Richtung unmöglich“.

So geht es irgendwann nur noch um Gefolgschaft, die keine Kritik zulässt. Aus dem Dunstkreis des amerikanischen Präsidenten sind alle verschwunden, die seiner Politik kritisch gegenüberstanden. Die Verbliebenen und auch die hinter ihm stehende Partei haben keine eigene Meinung mehr, weil sie nicht riskieren wollen, am selben Tag noch per Twitter gefeuert oder für geisteskrank erklärt zu werden.

Die Aufforderung, nicht falsch Zeugnis zu reden, die im achten – nach biblischer Zählung im neunten – Gebot zu finden ist, hat nicht weniger Relevanz als das Verbot zu töten oder zu stehlen. Und doch wird das Lügen – und auch das Schwätzen – in christlichen Kreisen bei weitem nicht so ernst genommen. In Amerika ist es eine verschwindende Minderheit von Kirchen, die das Geschwätz und den maßlosen Egoismus ihres Präsidenten anprangern.

Internetseiten, die sich um einen Faktencheck bemühen, haben auch in Deutschland Hochkonjunktur. Denn es wird in der aktuellen politischen Diskussion gelogen, dass sich die Balken biegen – auch in deutschen Wahlkämpfen. Noch ist es nur eine Minderheit ist, die das toll findet. Doch längst passiert es auch in persönlichen Gesprächen, dass Gerüchte einfach zu Wahrheiten erklärt werden.

Deshalb sollten wir gewappnet sein und diesen Tendenzen entgegenwirken. Die Gefahr, die vom Lügen und Schwätzen ausgeht, ist letztlich eine tödliche. Unsere Lebensgrundlage wird zerstört, wenn Ehrlichkeit nicht mehr zählt und falsche Unterstellungen unwidersprochen bleiben. Die einzelne falsche Behauptung zerstört nicht nur das momentane Gespräch, sondern das Vertrauen in Sinnhaftigkeit von Diskussionen schlechthin. Die Erfahrung, nicht mehr miteinander reden zu können, vergiftet das gesellschaftliche Klima, führt zu gegenseitigem Hass und letztendlich auch zu handfester Gewalt.

Für das neunte Gebot lohnt es sich zu streiten wie für jedes andere auch. In unseren Gemeinden sollten wir das Bewusstsein dafür schärfen, über Wahrheit und Lüge diskutieren und die Glaubenden ermutigen, zu widersprechen. Unaufgeregt, aber klar und deutlich, und in jeder Situation. Denn es darf sich nicht einschleifen, dass Lügen normal ist. Alles Lüge! – das darf nicht sein. Das zerstört die Liebe und jeden Zusammenhalt zwischen uns Menschen.

 

Hannah Arendt, Die Lüge in der Politik. Überlegungen zu den Pentagon Papers. In: Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München 1972.

Eva Horn, Schweigen, Lügen, Schwätzen. Eine kurze Geschichte der politischen Unwahrheit (Essay), in: Tumult Nr. 34: Unter uns – Formen der Diskretion, hg. Ulrich van Loyen, Michael Neumann, September 2008, S.112-122 (Zitat S. 120).