Freiheit Gottes und Freiheit des Menschen

Predigt zu Apostelgeschichte 2, 1-13

© Pixaby

Kathrin Oxen reichte diese Predigt beim Predigtwettbewerb zum Calvinjahr 2009 ein und gewann als eine von fünf Preisträgerinnen.

1 Als nun die Zeit erfüllt und der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren sie alle beisammen an einem Ort. 2 Da entstand auf einmal vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sassen; 3 und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich zerteilten, und auf jeden von ihnen liess eine sich nieder. 4 Und sie wurden alle erfüllt von heiligem Geist und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie der Geist es ihnen eingab. 5 In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. 6 Als nun jenes Tosen entstand, strömte die Menge zusammen, und sie waren verstört, denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. 7 Sie waren fassungslos und sagten völlig verwundert: Sind das nicht alles Galiläer, die da reden? 8 Wie kommt es, dass jeder von uns sie in seiner Muttersprache hört? 9 Parther und Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, von Judäa und Kappadokien, von Pontus und der Provinz Asia, 10 von Phrygien und Pamphylien, von Ägypten und dem kyrenischen Libyen, und in der Stadt weilende Römer, 11 Juden und Proselyten, Kreter und Araber - wir alle hören sie in unseren Sprachen von den grossen Taten Gottes reden. 12 Sie waren fassungslos, und ratlos fragte einer den andern: Was soll das bedeuten? 13 Andere aber spotteten und sagten: Die sind voll süssen Weins. (Apg 2,1-13, Zürcher Bibel 2007)

Liebe Gemeinde,

nicht zu fassen. Was über sie kommt, lässt die, die es mit ansehen, verstört und fassungslos, völlig verwundert und ratlos zurück. Nicht zu fassen, was geschieht. Sie reden so, dass jede und jeder in ihrer und seiner Sprache angesprochen wird. Wann war das eigentlich zum letzten Mal so, dass Menschen einander unmittelbar verstehen konnten? Ihre Erinnerung muss weit zurück gehen, an den Ort am Anfang, als alle Menschen eine Sprache hatten, ein und dieselben Worte (Gen 11,1).

Diese Zeit ist lange vorbei. Seitdem haben sie schmerzlich erfahren müssen, wie mühsam die Suche nach den richtigen Worten ist, in einer fremden, aber auch in der eigenen Sprache. „Was ist die richtige Sprache, Mama?“ fragt meine Tochter, die gerade lesen lernt. Was ist die richtige Sprache? Ich verstehe, wonach mein Kind mich fragt. Was ist die Sprache hinter den Worten, die Sprache, die alle verstehen können, die Sprache, die verbindet, statt zu trennen und heilt, statt zu verletzen? Lange, sehr lange hat sie niemand gehört. Hier und jetzt ist es endlich soweit. Sie hören sie in ihrer eigenen Sprache reden. Sie verstehen sich. Nicht zu fassen.

Was geschieht, schlägt den Bogen zurück in eine Vergangenheit, in der die Worte verstehbar waren. Was über sie kommt, verbindet Menschen unterschiedlicher Abstammung und Herkunft zu einer Gemeinschaft. Auch das ist schon einmal so gewesen, als Gott sich den zwölf Stämmen Israels zeigte am Berg Sinai und aus den vielen das eine Gottesvolk wurde. Sie waren beieinander, unterschiedlich nach Abstammung und Herkunft, und wurden eins.

Hier und jetzt wiederholt sich, was damals geschah. Nicht zu fassen, nicht in Dinge und Begriffe, nur in Vergleiche. Ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, Zungen wie von Feuer. Es kommt über sie. Sie lösen sich aus dem, was sie bindet, sie überwinden, was sie trennt, sie werden frei. Es ist Gottes Freiheit, die über sie kommt, die Freiheit dessen, der sich erbarmt, wem er will. Nicht zu fassen ist dieser Gott, nicht in Dinge zu zwingen oder auf Bilder festzulegen. Ein Gott, der seine Freiheit nicht dazu gebraucht, sich zu entziehen, sondern sich zuzuwenden. Ein Gott, dessen grenzenlose Freiheit in der Lage ist, die Grenzen unter den Menschen aufzuheben. Erlösen und versöhnen statt binden und trennen. Ihr seid keine Knechte, je einzeln gehalten und gebunden, ihr seid Kinder, einander eng verwandt und doch frei.

Seit sie über uns kam, leben wir in dieser Freiheit, als Kinder, nicht als Knechte. Wir sind nicht gehalten, etwas zu tun, um einmal frei zu werden. Wir sind frei. Gut möglich, dass wir dieser Freiheit so fassungslos und ratlos gegenüber stehen, wie die, die uns beobachten. Es gibt nichts zu tun – nicht zu fassen. An diesen Gedanken muss man sich erst einmal gewöhnen. Was soll das bedeuten?

Es bedeutet: Du bist frei von Angst. Die Stimme, die dir wieder und wieder sagt: Das reicht nicht, das ist nicht genug oder war nicht gut genug, schweigt. Die inneren Antreiber verstummen endlich. Die Freiheit von Angst kann auch Trost genannt werden. In diesem Trost kannst du leben und sterben. Es bedeutet weiter: Was du tust, willst du tun. Niemand zwingt dich dazu. Weil es nichts zu tun gibt, suchst du dir selbst deine Aufgabe. Du hast die Freiheit, ja und nein zu sagen. Du entscheidest, was und wie viel du von dir gibst und es wird mehr sein, als du vielleicht selbst für möglich hältst. Du gibst dich, nicht so, wie man seine Steuern zahlt, sondern als ob du Geschenke machst.

Bist du frei von Angst? Willst du tun, was du tust? Es ist nicht zu fassen, in welche Freiheit uns Gottes Zuwendung führt. Überall da, wo Angst und Zwang herrschen, ist Gott nicht, denn wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit (2. Kor 3,17). Ein Feuer in drückendem Dunkel, ein Wind in stickiger Enge. Keine Angst mehr und kein Zwang. Momente, in denen das Wirklichkeit wird, gibt es. Wir leben in einem Land, in dem das geschehen ist, in dem das drückende Dunkel dem Glanz der vielen Kerzen nicht standhalten konnte, in dem ein Wind aufkam, der die Veränderung mit sich brachte. „Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete“ lässt Erich Loest in seinem Roman „Nikolaikirche“ einen Stasi-Offizier sagen.

Die Erfahrungen, die wir seitdem machen, zeigen aber auch, wie wenig fassbar und wie gefährdet die Freiheit ist, in die uns Gottes Geist führt. Sie ist über uns gekommen und wir kommen nicht hinterher. Ein Feuer, das verlöscht, ein Wind, der sich legt, neue Ängste und neuer Zwang. Leben als Knechte und Mägde statt als Söhne und Töchter. Wir haben als Menschen, die aus dem Osten und Westen Deutschlands zusammenkommen, immer noch große Schwierigkeiten, einander zu verstehen, obwohl wir sogar eine gemeinsame Muttersprache haben. Die Frage meiner Tochter ist auch in diesem Zusammenhang schon oft meine Frage gewesen: Was ist die richtige Sprache, die Sprache, die verbindet, statt zu trennen, die heilt, statt zu verletzen?

Und doch erlebe ich auch, dass heute geschieht, was damals geschehen ist. Menschen unterschiedlicher Herkunft verstehen einander. Wir fragen uns: Sind wir frei von Angst? Wollen wir tun, was wir tun? Welchen Trost können wir weitergeben, was ist die Aufgabe, die wir uns suchen? Schon dass wir das überhaupt tun, an Trost denken angesichts einer bedrückenden Wirklichkeit, an Aufgaben angesichts wachsender Resignation, lässt andere ratlos werden: Was ist über euch gekommen? Seid ihr etwa betrunken? Es ist immer noch nicht zu fassen.

Amen.


Kathrin Oxen