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Auf dem Weinberg Gottes um seiner selbst willen
Predigt zu Matthäus 20,1-16 - Septuagesimä
1. Annäherung
Was für eine Gerechtigkeit ist es, wenn der eine, der kaum mehr als eine Stunde gearbeitet hat, genauso viel bekommt wie derjenige, der hier seit morgens früh malocht? Hätten sich alle wie der Letzte benommen, dann wäre doch die Weinrebe kaum abgeerntet. Die Erfahrung eines stark nivellierten Lohns für alle, egal ob sich Bemühende oder nicht, haben viele, die in den Ländern des sog. realen Sozialismus lebten, gemacht und gesehen, wie demotivierend er wirkt. Wie gut also verstehen wir die ersten, die gegen den Hausvater murren. Natürlich, im Gottesreich hat man es mit einer paradoxalen Gerechtigkeit zu tun. Aber worin besteht genau das Paradoxon?
2. Kontexte
Rabbinische Literatur weiß sehr gut von diesem paradoxalen Wesen der Gerechtigkeit Gottes. Das folgende Zitat wird öfter angeführt in einem anderen Zusammenhang, nämlich als ein Beispiel der Eigenständigkeit der mündlichen Tora gegenüber der schriftlichen. Die Geschichte hat aber eine überraschende Fortsetzung, die unser Thema direkt angeht. In dieser Geschichte kommt Mose ins Lehrzimmer des berühmten Tannaiten, Rabbi Aqibas, versteht aber kein einziges Wort seines Vortrages. Schnell verzagt er, bis sich Aqiba, befragt von einem anderen Studenten, in dieser unverständlichen Sache auf die Tora Moses vom Berg Sinai beruft.
„...Da beruhigte sich sein (Moses) Sinn. Er wandte sich um und kam vor den Heiligen, gelobt sei er. Er sprach vor ihm: Herr der Welt, du hast einen solchen Menschen und gibst die Tora durch mich? Er sprach zu ihm: Schweig – so hab’ ich’s beschlossen! Da sprach er vor ihm: Herr der Welt, du hast mir seine Tora gezeigt, zeige mir nun auch seinen Lohn! Er sprach zu ihm: Wende dich um! Er wandte sich um (und) sah, wie sein Fleisch auf dem Fleischmarkt wog [= Hinweis auf Aqibas Martyrentod]. Da sprach er zu ihm: Herr der Welt, das ist die Tora und das ihr Lohn? Er sprach zu ihm: Schweig – so hab’ ich’s beschlossen.“ Babylonischer Talmud, Traktat Menachot 29b (Übersetzung aus Lenhardt / von der Osten-Sacken, 319–20)
Midrasch Tanchuma beschäftigt sich mit dem Vers aus Kohelet 5,11: „Süß ist der Schlaf des Arbeiters, ob er wenig oder viel zu essen hat...“. Der Schlaf wird hier als Tod interpretiert, die Arbeit als Torastudium. Obwohl es bei verschiedenen Leuten ungleich ist, wieviel sie gegessen haben (lies: wie lange sie gelebt haben), der Lohn für alle, die sich mit der Tora beschäftigen, ist gleichermaßen süß für alle. Ein Midrasch, der dem Rabbi Levi zugeschrieben wird, stellt eine direkte Parallele zu unserem Evangeliumstext dar:
Ein König entschloss sich, mehrere Arbeiter für sein Unternehmen [auf Hebräisch malacha, siehe dazu das ins Deutsche über das Jiddische gekommene malochen] zu werben. Als sie mit der Arbeit angefangen hatten, nahm der König einen von ihnen und spazierte mit ihm. Am Abend kommen die Arbeiter für ihren Lohn. Auch der Arbeiter, der zuvor mit dem König spazierte, kommt für seinen Lohn. Könnte denn der König nun sagen: Du hast doch nur zwei Stunden gearbeitet, du bekommst entsprechend weniger? Könnte denn auch der Arbeiter in diesem Falle nicht sagen: Hättest du mich nicht gestört und wärst mit mir nicht spazieren gegangen, würde ich mehr bekommen? Und so ist es mit dem Heiligen, gelobt sei er und gepriesen sei sein Name. Der König ist der Heilige, gelobt sei er. Die Arbeiter sind diejenigen, die sich mit der Tora bemühen. [Wenn es darauf ankäme, ob sich] einer mit der Tora fünfzig oder nur zwanzig oder dreizig Jahre beschäftigt hat, dann könnte jeder von ihnen sagen: Hättest du mich nicht [aus dem Leben] weggenommen, könnte ich mich noch mehr der Tora widmen. Darum hat aber der König Salomo gesagt: „süß ist der Schlaf des Arbeiters, ob er wenig oder viel zu essen hat“, dass nämlich ihr Lohn derselbe ist. Midrasch Tanchuma (Warschauer Ausgabe), Parascha Ki tissa 3 (eigene Übersetzung)
Im Traktat Abot und in vielen nachträglichen Texten unterscheiden die Weisen, ob ein Mensch das, was er tut, wegen einer Belohnung – oder eben aus der Liebe zu Gott tut. Appliziert auf das Studium der Tora heißt die zweite Kategorie dann „sich mit der Tora um ihrer selbst willen zu beschäftigen“ und stellt eine Maxime rabbinischen Denkens dar.
Antigonos von Sokko [...] pflegte zu sagen: Seid nicht wie Knechte, die ihrem Herrn dienen, um Belohnung zu empfangen, sondern seid wie Knechte, die ihrem Herrn dienen, nicht um Belohnung zu empfangen. Die Furcht aber des Himmels sei über euch [...] Rabbi Meir sagt: Jeder, der sich mit der Tora um ihrer selbst willen beschäftigt, dessen Lohn sind viele Dinge. Und nicht nur dies, sondern die ganze Welt ist seiner wert [...] Mischna, Traktat Abot I,3 und VI,1 (Übersetzung Ueberschaer / Krupp)
3. Beobachtungen am Text
Obwohl es in vielen Ausgaben der Bibel „Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg“ genannt wird, ist es eigentlich der Besitzer des Weinbergs (auf Griechisch oikodespotes genannt, nicht mit einem Haustyrann von heute zu verwechseln!), der hier Bewegung in die Geschichte bringt und ihr einen überraschenden Ausgang verschafft. Seine unerwartete Weise der Belohnung ist das, womit das Himmelreich verglichen wird (homoia ... estin he basileia tón ouranón) und was auch die verschiedenen Reaktionen der anderen hervorruft.
Die ganze Parabel, die ein matthäisches Sondergut ist, bedient sich mit dem Bild eines Weinberges. Verschiedentlicherweise wird das Bild als eine ekklesiologische Kategorie benutzt im AT (Jes 5,1ff.; Jer 12,10ff.) wie auch im NT (Mt 21, 33–41; Mk 12,1–12 + Parr.). Die Parabel ist durch zwei Gespräche gerahmt, in denen es um Stellung, ja Hierarchie im Volk Gottes geht.
Insgesamt fünfmal geht der Besitzer des Weinberges auf den Marktplatz (agora) und macht es mit den dort arbeitslos stehenden Männern aus, dass sie in seinen Weinberg gehen, um bei der Ernte zu helfen. Die Zeiten seiner Werbungen sind wörtlich a) früh am Morgen, b) die dritte Stunde, c) die sechste und d) die neunte Stunde; und zuletzt auch e) die elfte Stunde. Nach der römischen und auch nach unserer Zeitzählung entspricht es dem a) frühen Morgen, b) neun, c) zwölf, d) drei wie auch e) sechs Uhr nachmittags. Sehr pointiert wird es erzählt, wie sich diese Werbungen abspielten. Mit der ersten Gruppe sind die Bedingungen explizit als ein Denar pro Tag vereinbart (symfoneó). Auch die Zweiten sind vergewissert, dass sie bekommen, „was recht ist.“ Die Dritten und die Vierten sind mit dem Hinweis auf die vorangehenden (hósautós) erledigt. Die Fünften sind zunächst leicht gemahnt („Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?“), es wird ihnen aber auch die Möglichkeit einer indirekten Verteidigung gegeben („Niemand hat uns angeworben“). Und schließlich werden auch sie in seinen Weinberg geschickt.
Am Abend, um sieben Uhr, eine Stunde nach der letzten Werbung (siehe V 12), kommt es zum Auszahlen des Lohns. Schön chiastisch fängt der Besitzer mit den Letzten an, nach ihnen aber kommen dann wegen dem Kontrast eben nur noch die Ersten. Verglichen mit einem Denar, den die Letzten für die eine Stunde ihrer Arbeit bekommen, erwarten die Ersten natürlich etwas mehr. Ihrer Erwartung entgegen bekommen sie aber genauso viel, wie die Letzten (V 10). Hier verbirgt sich die verfremdende Spitze der Parabel. Die ersten haben natürlich im Rahmen einer vergleichenden Tun-Ergehen-Logik völlig recht. Sie haben tatsächlich „den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze ertragen“ (V 12). Sie hätten mit einem Hinweis auf den nächsten Tag argumentieren können: wenn dem so ist, dann arbeiten sie alle erst ab Nachmittag. Gegen diese Logik steht aber eine Logik der himmlischen Alleinherrschaft Jesu, die gerade an diesem Konflikt erläutert werden soll. Der Witz der Antwort, die die Ersten (oder ihr Sprecher, denn er wird im Singular als Kollege, hepairos, angesporchen) bekommen, besteht darin, dass es zwar offensichtlich um eine gnadenhafte Großzügigkeit des Besitzers gegenüber der Mehrheit der Arbeiter geht, gegen den Protest der Ersten argumentiert er aber rein formal, mit einem Hinweis auf die ursprüngliche Vereinbarung (in V 13 kommt wieder das Verb symfoneó vor). Die bilaterale Verpflichtung des Besitzers und der Ersten ist nicht gebrochen worden. Der Besitzer selber nimmt jedoch die Irritation seiner Lösung wahr. In Anspielung auf das Anfangsversprechen, dass die Arbeiter bekommen, „was recht ist“ (V 4), weist er nun die Kritik ab, dass den Ersten Ungerechtigkeit geschehe (ouk adiko se).
Es ist also im Grunde ein Streit um das Wesen der Gerechtigkeit Gottes. Das Argument, das hier als entscheidend gilt, ist das, dass es hier um die Gerechtigkeit eines souveränen Alleinherrschers geht, die sich nicht durch eine offensichtliche Gleichheit und schon gar nicht durch eine allgemeine Akzeptanz, sondern ausschließlich durch die Tatsache, dass alles sein Unternehmen ist, zu erweisen beliebt. Das Gleichnis hätte gut mit dem talmudischen „Schweig – so hab’ ich’s beschlossen“ (s.o.) enden können.
Damit gelangt die Parabel zum Sprichwort von den Letzten, die die Ersten werden sollen, und umgekehrt (V 16). Diese paradoxale Umdrehung hat schon das vorangehende Gespräch Jesu mit Petrus (VV 19,27–30), in dem der Jünger fragt, was sie dafür bekommen, dass sie alles verlassen haben und Jesus nachgefolgt sind, abschließt. Im Gespräch mit Petrus ist es aber eigentlich um eine Bestätigung der Tun-Ergehen-Logik gegangen (im Sinne eines „Ihr habt alles verlassen, darum werdet ihr die Stämme Israels richten“). Hier hingegen geht es – mit denselben Worten – um einen genauen Gegensatz dieser Logik, denn im Hause Gottes entscheidet nur der himmlische oikodespotes, und man soll unter diesen Bedingungen einfach dankbar das, was sein ist (to son, V 14), nehmen und gehen.
Als ein direkter Gegensatz der Dankbarkeit gilt der Neid (V 15b); der griechische Terminus dafür (ofthalmos ... poneros) ist das aus rabbinischer Literatur bekannte „schlechte Auge“ (ajin raa).
4. Homiletische Entscheidungen
Es besteht eine lange Tradition antijudaistischer Auslegung dieser Perikope, die z.B. noch im Kommentar der Neuen Jerusalemer Bibel (1973) deutlich schallt: „So handelt Gott; er nimmt auch die Spätgekommenen – die Sünder und die Heiden – in sein Reich auf. Die Erstberufenen – die Juden, denen seit Abraham der Bund gewährt war – dürfen hieran kein Ärgernis nehmen.“
Dagegen haben wir oben beobachtet, dass es in der Parabel vielmehr um die Souveränität Gottes geht, die weit über unser Rechnen hinausgeht; man soll hier also nicht eine Regel durch die andere ersetzen, nach der nun etwa nicht die Ersten, sondern die Letzten einen Sonderlohn automatisch bekommen sollen. Das letzte Argument des Besitzers ist doch, dass es sein Unternehmen ist. In diesem Kontext gerät auch das protestantische sola gratia in neues Licht: das Heil ist kein Automatismus, nicht etwas, auf das jeder berechtigten Anspruch hat, sondern eine freie Entscheidung des Besitzers.
Nicht nur das Heil im religiösen Sinne, sondern auch Erfolg, Verständnis und Liebe der anderen, Gesundheit oder Glück gelten manchmal als etwas, auf das wir Recht und Anspruch haben. Unsere von Massenmedien bestimmte und auf den Konsum orientierte Zivilisation fixiert die Illusion eines berechtigten Anspruchs auf Wohlergehen in jeder Hinsicht. Unsere Parabel beleuchtet diese Ansprüche als falsche. Predigt als eine Attacke auf die verbreitete Vorstellung, dass man das Recht auch auf Glück hat und darum glücklich sein muss, kann letzten Endes ganz befreiend wirken.
Mehr paränetisch kann man in der Predigt auch das Motiv von Neid hervorheben, das hier in V 15 mit dem aus rabbinischer Literatur bekannten ajin raa, dem „schlechten Auge“, bezeichnet wird. Wer vergisst, dass es um Gottes Unternehmen geht, der fängt an sich mit anderen zu vergleichen, was immer entweder zum Neid oder zum Paternalismus führt. Als ein Argument gegen den Neid kann man das in V 14a „Nimm dein Geld und geh“ (der Text spricht jedoch hier nicht vom Geld, sondern ganz allgemein – aron ton son kai hypage – „nimmt das Deine“) herausbuchstabieren.
Es gibt aber in der Parabel auch ein Motiv, das dann auch stark in der Aggada im Midrasch Tanchuma hervortritt: ein Motiv, dass es letzten Endes nicht besonders um den Lohn geht, sondern um die Arbeit an dem Weinberg selbst. Anders gesagt: dass die Arbeit an dem Weinberg schon der Lohn ist. Wenn man die Arbeit an dem Weinberg schon als ein Geschenk, einen Lohn versteht, dann verliert natürlich auch alles Vergleichen seinen Sinn. Dann ähnelt es dem rabbinischen sich mit der Tora li-schma, um ihrer selbst willen, zu beschäftigen.
5. Liturgievorschläge
Falls die Freiheit besteht, alttestamentliche Texte für das erste Bibellesen zu wählen, könnten als Vorbilder der Souveränität Gottes wie auch des menschlichen Neides etwa antitypisch die Geschichte von Kain und Abel (Gen 4,1–16), von Esau und Jakob (Gen 27) oder von Rahel und Leah (Gen 30,1–22) gelesen werden.
Lieder:
Hilf, Herr meines Lebens (EG 419)
Die Sonn hoch an dem Himmel steht (EG 459)
Gottes Sohn ist kommen (EG 5)
Literatur:
Bar Ilan’s Judaic library: Bible Talmud commentaries & halachic response, Elektronische Datei, ISBN 1-931711-27-5, Ramat Gan 2004.
Hagner, Donald A., Word Biblical Commentary, Matthew, Dallas 2005 (CD-ROM Edition).
Lenhard, Pierre / von der Osten-Sacken, Peter, Rabbi Akiva. Texte und Interpretationen zum rabbinischen Judentum und Neuen Testament, ANTZ 1, Berlin 1987.
Ueberschaer, Frank u. Krupp, Michael, Die Mischna, Textkritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar: Avot, Ein Karem-Jerusalem 2003.
Voß, Stefan, Septuagesimae: Mt 20,1–16a, in: Kruse, Wolfgang, Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Zur Perikopenreihe I, Neuhausen 2002, 105–109.
Quelle:
Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext / Plus
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