Frommer Spruch

Mittwochskolumne von Paul Oppenheim


In diesem Jahr geht es in der Jahreslosung um den Frieden © Pixabay

Es gibt sie seit 1930, eine deutsche Erfindung, eigentlich protestantisch aber inzwischen ökumenisch: die Jahreslosung. Sie prägt das kirchliche Leben zur Jahreswende mit der Andacht im Gemeindebrief, als Predigttext im Neujahrsgottesdienst, als Motto des Neujahrsempfangs. Zum Jahresspruch gesellen sich die zwölf Monatssprüche der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen.

Der isolierte Bibelspruch gehört zum deutschen Protestantismus wie die Lutherbibel und das ist kein Zufall, denn typisch für die Lutherbibel sind die fett gedruckten Verse, die sogenannten „Kernstellen“. In keiner anderen deutschen Bibelübersetzung und in keiner anderen Sprache hat sich diese Praxis durchgesetzt, einzelne Bibelverse hervorzuheben. Der Brauch soll auf Martin Luther selbst zurückgehen, der damit besonders wichtige Aussagen der Bibel unterstreichen wollte. Im Laufe der verschiedenen Revisionen hat es da Veränderungen gegeben, aber auch in der Lutherbibel von 2017 sind 1.082 Kernstellen markiert.

Die isolierten Bibelsprüche sind ein typisches Merkmal deutscher protestantischer Frömmigkeit, die evangelische Christen von der Wiege bis zur Bahre als Tauf-, Konfirmations-, Trau-und Begräbnisspruch begleiten. Für Pastoren gibt es auch noch den Bibelspruch zur Ordination und zur Einführung. Die Eigenartigkeit dieser deutschen Tradition wird einem erst bewusst, wenn man feststellt, dass es sie anderswo auf der Welt kaum gibt. Hie und da hat sich der Gebrauch des Bibelspruchs in lutherischen Kirchen jenseits der deutschen Grenzen ausgebreitet, aber nirgends prägen die Sprüche derartig das kirchliche Leben wie in Deutschland.

Mit den täglichen Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine hat diese deutsche Sitte seit dem 18. Jahrhundert eine besondere Art der Frömmigkeit hervorgebracht, die protestantische Sprüchefrömmigkeit, die trotz der Übersetzung der Losungen in über 60 Sprachen nirgends so prägend und verbreitet ist wie unter deutschen Protestanten. Ob Geburtstag, Abschied, Einweihung, Morgen- oder Abendandacht die Tageslosung und der passende Lehrtext sind immer angebracht.

Mit dem Wochenspruch, den die Michaelsbruderschaft in den 1920er Jahren erschuf, ist der isolierte Bibelvers in den meisten evangelischen Kirchen in Deutschland sogar zum festen Bestandteil der Sonntagsliturgie geworden.

Der aus dem Kontext gerissene Vers mag manchem als Unsitte und theologischer Irrweg erscheinen. Dasselbe gilt für die gegoogelten Tauf- und Trausprüche und für alle biblischen Spruchsammlungen ob auf Papier (Textbuch für Prediger seit 1903!) oder im Netz. Der isolierte Bibelvers ist aber immer eine Einladung zur Bibellektüre und bietet eine Chance zur Wiederentdeckung der „Gantzen Heiligen Schrift“ als den eigentlichen Quell evangelischer Frömmigkeit.

In diesem Jahr umfasst die Jahreslosung nur einen halben Bibelvers. Warum eigentlich die zweite Hälfte und nicht die erste? Wie verhält sich die erste zur zweiten Hälfte? Wir haben ein ganzes Jahr vor uns, um darüber nachzudenken und danach zu leben. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich viel Erfolg dabei!


Paul Oppenheim