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Kaninchen und Schlange
Mittwochskolumne von Paul Oppenheim
Im Westen Syriens, an der Grenze zur Türkei, liegt die Provinz Idlip. Seit Beginn des Bürgerkriegs befindet sich die Provinz in den Händen oppositioneller Kräfte, zeitweise unter Einfluss des „Islamischen Staates“ und heute unter der Kontrolle djihadistischer Gruppen, die sich gegen das Assad-Regime militärisch wehren. Zur Provinz gehört die Millionenstadt Idlip, in die unzählige Menschen aus anderen Teilen des Landes geflohen sind. Da, wo vor dem Krieg etwa 2 Millionen Menschen lebten, sind es jetzt an die 3 Millionen.
Aus den Hochburgen des Widerstands gegen das Assad-Regime, die sich nach und nach den syrischen und russischen Truppen ergeben mussten, durften tausende von Kämpfern mit ihren Familien nach Idlip abziehen. Das war das Ergebnis von Verhandlungen nach tagelangen Bombardierungen, die hunderten von Menschen das Leben gekostet haben.
Heute warnen Beobachter – vor allem aus der Türkei – vor der größten humanitären Katastrophe des 21. Jahrhunderts, wenn es zum Großangriff russischer und syrischer Truppen auf Idlib käme. Es ist von einem ungeheuren Blutbad und von einer enormen Flüchtlingswelle in Richtung Türkei und Westeuropa die Rede, wenn nicht schnell etwas getan werde, um die Katastrophe zu verhindern.
Amerikaner und Europäer und auch die Vereinten Nationen rufen zur Mäßigung auf, warnen vor dem Gebrauch chemischer Waffen, bekunden aber vor allem ihre Hilflosigkeit angesichts einer Entwicklung, die unausweichlich scheint. Es wirkt wie das berühmte Starren des Kaninchens auf die Schlange.
Der Diktator Baschar al-Assad, ob es einem passt oder nicht, erobert sein Land zurück. Seinen Truppen gelingt es, mit Hilfe der Verbündeten aus Russland und dem Iran, Stück für Stück das Territorium Syriens wieder unter die Gewalt der Regierung in Damaskus zu bringen. Wohin Assads Truppen kommen, kehrt wieder Ordnung ein. Der Schulbetrieb nimmt seinen Lauf, Krankenhäuser funktionieren und die Polizei tut ihren Dienst. Auch die christlichen Kirchen können ihre zerstörten Gebäude wieder aufbauen und Gottesdienste abhalten. Die völlig zerstörten Stadteile, wo die Rebellen ihre Hochburgen hatten, werden allerdings noch lange an den Bürgerkrieg erinnern. Für den Wiederaufbau wird nämlich viel Geld ins Land fließen müssen.
Was ist angesichts dieser Realität zu tun?
Müssten nicht die europäischen Regierungen und gerade auch die deutsche Bundesregierung über ihren Schatten springen und das Gespräch mit dem Assad-Regime suchen? Nachdem es nicht gelungen ist, das Assad-Regime durch eine islamistische Regierung zu ersetzen, ist es Zeit, die Tatsache anzuerkennen, dass Baschar al-Assad der einzig sinnvolle Ansprechpartner ist, wenn es um die Zukunft Syriens geht.
Ließe sich nicht eine unblutige Lösung des Konflikts in Idlip auf dem Verhandlungsweg erreichen, wenn Europa bereit wäre, mit dem ungeliebten Herrscher zu reden? Sollte Europa nicht seine Hilfe beim Wiederaufbau des Landes anbieten im Austausch für den Verzicht auf einen militärischen Sieg in Idlip? Noch wäre dafür Zeit.
Paul Oppenheim