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Schuld und Sühne, Sünde und Gnade
Predigt zu Römer 3, 21-26
21 Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes erschienen - bezeugt durch das Gesetz und die Propheten -, 22 die Gerechtigkeit Gottes, die durch den Glauben an Jesus Christus für alle da ist, die glauben. Denn da ist kein Unterschied: 23 Alle haben ja gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verspielt. 24 Gerecht gemacht werden sie ohne Verdienst aus seiner Gnade durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist. 25 Ihn hat Gott dazu bestellt, Sühne zu schaffen - die durch den Glauben wirksam wird - durch die Hingabe seines Lebens. Darin erweist er seine Gerechtigkeit, dass er auf diese Weise die früheren Verfehlungen vergibt, 26 die Gott ertragen hat in seiner Langmut, ja, er zeigt seine Gerechtigkeit jetzt, in dieser Zeit: Er ist gerecht und macht gerecht den, der aus dem Glauben an Jesus lebt.
Liebe Gemeinde,
dieser Abschnitt aus dem Römerbrief wird von vielen Theologinnen und Theologen als die Mitte des Evangeliums angesehen oder auch als Urtext der Reformation und der Rechtfertigungslehre. Das flößt einem Respekt ein – zu Recht. Aber es geht doch anderseits oder gerade deshalb um eine Angelegenheit, die uns alle und immer betrifft: Es geht um Schuld und Sühne, um Sünde und Gnade.
Das sind nun nicht alltägliche Begriffe. Am ehesten noch die „Schuld“, wobei auch die heute oft mit „Verantwortung“ umschrieben wird. Das Thema aber, so meine ich, ist nicht nur ein alltägliches, sondern geradezu ein unser Leben dominierendes.
Wenn in der Politik Fehler passieren, ist die heißeste Frage, ob es der Minister schafft, die Schuld einem Untergebenen in die Schuhe zu schieben oder ob er selbst gehen muss. Was wirklich los war, interessiert viel weniger als dass Köpfe rollen.
Es scheint wie ein Muster zu sein, das uns mit auf die Welt gegeben ist. Wir wünschen uns in unserem ganzen Leben am meisten ausgleichende Gerechtigkeit. Jeder soll das bekommen, was er verdient. Wenn das so ist, gefällt es uns, wenn nicht, beschweren wir uns.
Als traurige Paradebeispiele dafür, wohin solcher Bestrafungseifer führen kann, werden gerne Todesurteile in den Vereinigten Staaten angeführt. In einigen Fällen konnten diese nicht mehr rechtzeitig rückgängig gemacht werden, als die Unschuld der Verurteilten bewiesen war.
Ich glaube, es ist am deutlichsten mit einer Art Gleichgewicht zu beschreiben, das wir hergestellt haben wollen. Wenn ein Verbrechen begangen wird oder ein Unglück geschieht, dann entsteht ein Schaden, der ausgeglichen werden muss. Das sehen die Betroffen so und das sehen wir auch als Zuschauer so und fordern also Gerechtigkeit.
Die Erfahrung zeigt ja, dass es bei einem Ausgleich meistens nicht bleibt, sondern dass sich Konflikte hochschaukeln und immer heftigere Reaktionen auslösen.
Wenn wir mal ehrlich sind, ziehen wir Menschen uns immer wieder gerne auf dieses Prinzip zurück: den gerechten Ersatz des Schadens und die Sühne der Schuld als ausgleichende Gerechtigkeit.
Holzschnittartig wird nun oft theologisch so argumentiert, dass mit Jesus die Liebe in die Welt gekommen ist und von nun an nicht mehr Rache, sondern Vergebung zum obersten Prinzip erkoren wurde. Natürlich nur von den Christen, die Juden seien ja in ihrem alten System stecken geblieben.
Paulus nennt die „Gerechtigkeit Gottes“, was natürlich auch kein neuer Begriff ist. Aber er sagt: Die Gerechtigkeit Gottes ist „unabhängig vom Gesetz“ erschienen. Sie ist also offensichtlich nicht gleichzusetzen mit dem Gesetz, sondern ist etwas Eigenes.
Also ist auch ausgleichende Gerechtigkeit nicht automatisch Gottes Gerechtigkeit. Und Sühne, die wir Menschen uns gegenseitig verordnen, macht Unrecht nicht ungeschehen. Gottes Gerechtigkeit ist etwas ganz Anderes – etwas Größeres.
Gottes Gerechtigkeit ist und bleibt etwas, das wir nicht durchschauen oder berechnen, sondern an das wir nur glauben können. Ob es sie für uns gibt oder nicht, ist eine Frage unseres Vertrauens. Wir sollen Gott zutrauen, dass er für Gerechtigkeit sorgt und können unsere Rachegefühle ruhig stecken lassen.
Genau daran, meine ich aber, entscheidet sich, ob wir es mit Gott ernst meinen: Ob wir seiner Gerechtigkeit trauen ohne sie zu kennen und ob wir mit dieser Freiheit umgehen können, ohne feste Regeln ein verantwortliches Leben zu führen.
Wir sollen jedoch mit uns und mit anderen nicht ganz so streng sein. Niemand kann das Gesetz bis ins letzte Detail halten – auch nicht, wenn man nur die zehn Gebote voraussetzt. Am wenigsten das erste Gebot, dass wir Gott ehren sollen. Immer wieder ehren wir eben nicht ihn, sondern uns selbst, nehmen uns wichtiger als den Rest der Welt und urteilen an seiner Stelle über andere.
Für uns ist aber schon gesorgt – auch für unser Gerechtigkeitsgefühl: Es wird immer wieder hitzig über das Sühnopfer Jesu Christi debattiert. Umstritten ist es in dem Sinn, dass Jesus stellvertretend sterben musste, um den Zorn Gottes zu besänftigen. Ich glaube es ein bisschen anders: Jesus Christus musste sterben, um den Zorn von uns Menschen, unser Bedürfnis nach Vergeltung und Ausgleich zu besänftigen.
Wichtig ist auch noch, dass es sich hierbei nicht um eine Vertröstung auf den jüngsten Tag handelt. Paulus betont ausdrücklich, dass Gott seine Gerechtigkeit „jetzt, in dieser Zeit“ zeigt. Wenn wir ihr vertrauen, verändert das unser Leben jetzt und hier.
Das Vertrauen auf die Gerechtigkeit Gottes macht uns aber gelassener in aufgeregten Situationen, aufmerksamer für die Zusammenhänge einer Angelegenheit, gnädiger mit unseren Mitmenschen – auch wenn diese Schuld auf sich geladen haben.
Amen.
Georg Rieger