Hände reichen

Martin Engels berichtet aus Idomeni. Teil III

Menschen auf der Flucht bei Idomeni © Marcel Kuß/ekir.de

"Als Kirchen werden wir nicht nur etwas von der Politik fordern, sondern auch konkrete Wege suchen, unsere Netzwerke einzusetzen und für eine europäische Solidarität zu werben und sie vorzumachen. Es gibt viel zu tun." - Martin Engels, Moderator des Reformierten Bundes

Mit den kleinen Fingerchen die helfenden Hände des großen Mädchens fest im Griff, tapst die Einjährige durch das Spielzimmer des Gemeindehauses. „Komm! Komm! Komm!“ Feuern sie zwei andere (4 und 6) an. Die Einjährige quietscht vergnügt und wackelt ein wenig unsicher auf ihren Füßen durch den Raum. Ihre blonden Löckchen wippen bei jedem Schritt. Das große Mädchen stellt sicher, dass nichts passiert und weist ihre beiden Schwestern auf Arabisch an, ja aufzupassen, dass nichts im Weg liegt.

Emsig räumen sie Bauklötze, Autos und den umgefallenen Kinderbesen aus dem Weg. Ermahnen andere Kinder, die mit ihren Rutschautos gefährlich nah kommen, und stellen sicher, dass der Weg für die Kleine frei ist, helfen ihr auf die Beine, wenn sie hinfällt. Die Quadriga kleiner Damen weiß, wie es geht.

Seit drei Stunden bin ich wieder in Deutschland. Die stilisierten Flügel auf dem Leitwerk des Flugzeugs und dem Inflight-Shopping-Magazin in der Sitztasche vor mir erinnern mich an den Storch, der uns zu Beginn der Reise begrüßte und sich auch nicht um die Grenzen auf dem Boden scheren musste. Mit dem richtigen Pass in der Tasche brauche ich das auch nicht, stelle ich fest und frage mich, seit wann wir in Europa den Frieden, die Freiheit, die Würde jedes Einzelnen egal welcher Herkunft und die Freizügigkeit für so selbstverständlich halten, dass wir sie nicht zivilgesellschaftlich mit aller Macht gegen die Hetzreden und nationalen Stimmungsmacher verteidigen.

Es leben noch genügend Zeugen, die als Jugendliche Wälle und Bunker an den Grenzen unserer Länder in Europa gebaut haben. Sie haben aber mit dafür gesorgt, dass das lang gepflegte Erbe der Erzfeindschaft zwischen den Völkern Europas nicht mehr angetreten wurde, trotz oder gerade wegen der gemeinsamen Geschichte.

Um in die uralten Kirchen Thessalonikis zu kommen, muss man von der Straße ein paar Stufen runter gehen. Je älter die Kirche umso tiefer liegt sie unter dem Niveau der heutigen Straße. Um die Spuren der deutschen Geschichte zu sehen, muss man indes nicht tief graben. Die Narbenschmerzen der langsam versöhnten Wunden, die während der deutschen Schreckensherrschaft in Teilen Griechenlands im 2.Weltkrieg geschlagen wurden, platzen in der Finanzkrise in den letzten Jahren wieder auf und werden von manchen Kräften bewusst aufgerissen.

Unsere Delegation erfährt während der ganzen Zeit herzliche Gastfreundschaft und die Gemeinschaft der weltweiten Kirche Jesu Christi in unseren Begegnungen mit der Griechisch Evangelischen Kirche.

Was diese kleine Kirche leistet ist groß. Der Generalstreik, der unser Flugzeug für einen Tag am Boden hält, gibt uns zusätzliche Einblicke in die Notlage der griechischen Gesellschaft, zu der die Not der schutzsuchenden Flüchtlinge hinzukommt. Seit der Zuspitzung der Finanzkrise, spätestens seit dem Jahr 2010 hat diese kleine Kirche einen Großteil ihrer Gemeindeglieder durch Arbeitsmigration in die reichen Länder des Nordens verloren. Die Einkommenssituation der Gemeindeglieder hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert: von bis zu 50% weniger Gehalt durch Lohnkürzungen und Steuererhöhungen werden uns berichtet. Bei einer hinzukommenden Arbeitslosenquote von 25% sind die finanziellen Grundlagen der Kirche vor Ort erschüttert.

Dem Engagement für Flüchtlinge, für verarmte Griechinnen und Griechen und für die von der Gesellschaft diskriminierten Roma, steht das aber nicht im Weg. Im Gegenteil: Die Suppenküche einer Gemeinde, die vorher an zwei Tagen 40 Menschen mit einer warmen Mahlzeit versorgte, gibt nun täglich weit über hundert Mahlzeiten an Menschen in Not aus. Sie schaffen das und ihr Optimismus, ihre Tatenfreude und die kreativen Ideen zur Hilfe in enger Absprache mit anderen Hilfsorganisationen sind inspirierend.

Die Gemeinden machen sich Gedanken, wie sie einen aktiven Beitrag dazu leisten können, Asylsuchende in Griechenland zu integrieren. Hilfsgruppen werden lokal gegründet und Häuser und Wohnungen zur Verfügung gestellt. Bildung steht im Vordergrund sowie der kontinuierliche Versuch mit den Aktionen den Menschen ihre Würde bewusst zu machen und sie zu stärken an Leib und Seele.

In Deutschland, bei steigenden Steuereinnahmen, Einkommen und Renten scheint das gerade wieder schwerer zu werden, wie der Streit um ein Flüchtlingsheim in Hamburg Blankenese uns vor Augen führt. Ist der Satz der Kanzlerin „Wir schaffen das“ wirklich so kühn?

Noch während unseres Besuches bekommen wir mit, wie von einem Unterstützerkreis einer Kirchengemeinde in Deutschland der Hilferuf einer syrischen Frau eingeht, die ihren gehbehinderten Mann und zwei ihrer Kinder in Idomeni sucht. Sie werden tatsächlich gefunden. Manche Helfer kennen sich dort gut aus zwischen hunderten von Zelten und leiten alles in die Wege, dass die Familie herauskommt und einen Weg zum Rest der Familie in Deutschland findet.

Was für eine Chance liegt hier in der ökumenischen Verbundenheit unserer Kirchen, ein Netzwerk, das wir nutzen können und müssen. Uns im ökumenischen Kontext oft mit „Sisters and Brothers in Christ“ anzusprechen, ist keine fromme Rhetorik, sondern Ausdruck einer Verbundenheit, die aneinander festhält und sich aufrichtet und gemeinsam auf dem Weg ist.

Als Kirchen werden wir nicht nur etwas von der Politik fordern, sondern auch konkrete Wege suchen, unsere Netzwerke einzusetzen und für eine europäische Solidarität zu werben und sie vorzumachen. Es gibt viel zu tun.

Der Spielnachmittag geht zu Ende, das Gemeindehaus ist immer noch voll und die vier Mädchen spielen immer noch miteinander. Eine der großen Mädchen holt den Laufwagen, setzt ihre kleinere Schwester hinein und die Einjährige gibt den Antrieb, während die Große um die Hindernisse herum lenkt. Geht doch!

Als am Abend alle nach Hause gehen, bekommt die Familie aus Syrien einen grünen Spielzeug-Mähdrescher für die Kinder geschenkt. Der wird direkt in Beschlag genommen. Das letzte richtige, große grüne Fahrzeug, das ich gesehen habe, war der Panzer auf den Gleisen von Idomeni. Er soll die Grenze verteidigen genauso wie die Soldaten mit ihren Gummigeschossen und Tränengas. Aber vor wem? Den verzweifelten Menschen im Campingzelt, dem kleinen Mädchen mit der dreckigen HelloKitty Kappe, dem jungen Mann im BVB-Trikot von Marco Reus, der alten arabischen Frau, die vor ihrem Zelt hockt und in einer alten Dose drei Kartoffeln kocht?

Ich bin mir sicher: Ändert sich nichts, dann wird die Verzweiflung der Menschen dort von Tag zu Tag noch größer werden. Was machen wir? Darum müssen wir ringen. Jetzt!


Pfr. Martin Engels
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