Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Sekundärliteratur:
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Christlich-jüdischer Dialog und deutsch-israelische Beziehungen
Erinnerung und Interkulturalität
Den Vortrag „Christlich-jüdischer Dialog und deutsch-israelische Beziehungen“ hielt Tobias Kriener als Impulsreferat beim Jour Fixe ‚Erinnerung und Interkulturalität - Zur gegenwärtigen Bedeutung des Nationalsozialismus’ der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e.V. am 18.1.2001 in der ‚Werkstatt der Kulturen’, Berlin.
1.
Bis 1945 war in den meisten christlichen Konfessionen (1) - und völlig unbestritten im deutschen Protestantismus - die Auffassung vorherrschend: Mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels ist die Verwerfung der Juden dafür, daß sie die Botschaft von Jesus als ihrem Messias ausgeschlagen haben, auch historisch-politisch besiegelt und geradezu bewiesen. Ansätze zu einer Interpretation der Ereignisse von 66-70 in diesem Sinne finden sich bereits im Neuen Testament (Mk 12, 1-12 par; Mt 23, 37-39 par; Mk 13, 1 f par; Mt 22, 7; Lk 19, 41-44; 21, 20-24).
Zum festen Bestandteil christlicher Geschichtstheologie wurden sie in den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte mit der Rezeption der Darstellung des jüdischen Aufstands im Werk des jüdischen Historikers Josephus ‚De bello judaico’ (2). Seine Interpretation der Ereignisse als Strafgericht Gottes für Israels Sünden (3) - die im Übrigen auch die Rabbinen teilten (4) - wurde von christlichen Theologen mit neutestamentlichen Aussagen so in Verbindung gebracht, daß eben in der mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels bestraften Sünde keine andere als die Kreuzigung Jesu gesehen wurde (5). Was bedeutete angesichts dieser heilsgeschichtlichen Interpretation des Untergangs Jerusalems und damit des Endes der halbautonomen politischen Existenz des jüdischen Volkes der Neubeginn mit der Gründung des Staates Israel 1948?
2.
Die evangelische Kirche und Theologie in Deutschland haben die Gründung eines Staates, der sich den Namen Israel gab, jahrelang mit Schweigen übergangen. So erwähnt etwa das richtungweisende ,Wort zur Judenfrage’ der Synode der EKD von Berlin-Weißensee 1950, das die Überzeugung von der bleibenden Erwählung des Volkes Israel ausspricht, die Mitschuld an der Ermordung der Juden bekennt und dazu aufruft, „sich von jeglichem Antisemitismus loszusagen", den Staat Israel nicht (6). Dieses Faktum hat uns Evangelische zunächst offensichtlich sprachlos gelassen, denn dafür gab es keine theologischen Kategorien.
Es war der Schweizer Theologieprofessor Karl Barth, der als erster evangelischer Theologe in seinem theologischen Hauptwerk, der ‚Kirchlichen Dogmatik’, das Faktum Israel nur zwei Jahre nach seiner Gründung erwähnt und gewürdigt hat. In der Lehre von der göttlichen Vorsehung bezeichnet er „die Geschichte der Juden“ (7) neben der „Geschichte der Schrift" (8), der „Geschichte der Kirche" (9) und der „Begrenzung des menschlichen Lebens" (10) als „Zeichen und Zeugen dafür, daß [...] das allgemeine Weltgeschehen [von Gott] regiert wird“ (11). Und in dem Abschnitt über die Geschichte der Juden kommt er ausdrücklich darauf zu sprechen, „daß die Juden (oder doch viele Juden) nun auch wieder in Palästina leben [...] mit dem Anspruch und mit der faktischen Aufrichtung und Behauptung eines neuen ‚Staates Israel’ (12).. Und dann kommt er - nach etlichen sehr lobenden Worten über den jungen Staat und seine Bewohner - auf die Konfrontation dieses neuen Faktums mit der alten christlichen Lehre zu sprechen und entscheidet sie in folgender Weise:
„Da sind sie wieder, da sind sie noch: [...] Es sollte nicht so sein, es war offenbar im Jahre 70, in jenem dem Tode Jesu so unheimlich entsprechenden Untergang des alten Israel so nicht gemeint, daß die Juden als Juden nicht mehr da sein oder doch nicht mehr sichtbar sein sollten. Sie waren es immer. Sie sind es noch heute und nun also heute, unmittelbar nach der scheinbar furchtbarsten, scheinbar dem äußeren Umfang nach alles Frühere in Schatten stellenden Katastrophe ihrer Geschichte erst recht" (13).
Man sieht: Auch für Barth existierte noch der Zusammenhang zwischen Kreuzigung Jesu und den Ereignissen des Jahres 70, wenn er ihn auch nicht als kausalen verstand, sondern als eine Entsprechung, die Barth dann aber durch die Fortexistenz des jüdischen Volkes und - erst recht - durch die Gründung des Staates Israel im Regiment Gottes - im doppelten Sinne - aufgehoben sieht.
Dese Formulierungen Barths wie auch andere seiner Einsichten, die er im auffallendem Kontrast zu der gesamten theologischen Tradition vor ihm und - wie sich immer wieder an Formulierungen feststellen läßt, die uns heute ganz antisemitisch anmuten - im Kontrast zu seiner persönlichen Prägung in der Auseinandersetzung mit der Bibel und den zeitgeschichtlichen Ereignissen gewonnen hat, haben in den folgenden Jahrzehnten die Richtung, in der in evangelischer Theologie und Kirche in Deutschland über das Judentum und Israel nachgedacht wurde, tief geprägt, wie ich noch zeigen werde.
3.
Schon Jahre vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel haben christliche, namentlich evangelische Einzelpersonen, Gruppen und Institutionen Beziehungen nach Israel gesucht. Der 21-jährige Theologiestudent Michael Krupp durchquerte am 28.10.1959 das Mandelbaumtor und war damit „der erste Deutsche für fast alle, denen ich begegnete, der erste Deutsche, den sie in Israel trafen, der erste Deutsche nach dem Krieg" (14), wie er berichtet.
Im März 1960 ging der Berliner Studentenpfarrer Friedrich-Wilhelm Marquardt als erster einer Reisegruppe der ESG an der TU Berlin, die er zusammen mit seinem Kollegen Pfarrer Rudolf Weckerling leitete, denselben Weg über die jordanisch-israelische Grenze (15). Im selben Jahr wurde die christliche Siedlung Nes Amim nördlich von Haifa unter niederländischer und deutscher Beteiligung gegründet (16). Einer ihrer geistlichen Mentoren war der Duisburger Theologieprofessor Heinz Kremers.
1961 nahm die auf Initiative des Richters und Mitglieds der Bekennenden Kirchen Lothar Kreyssig gegründete Aktion Sühnezeichen ihre Arbeit in Israel auf (17). Und schließlich ist aus der Zeit lange nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen das Programm ‚Studium in Israel’ zu erwähnen, das auf Initiative des schon erwähnten Michael Krupp, Martin Stöhrs, Rolf Rendtorffs, des Berliner Theologieprofessors Peter von der Osten-Sacken und anderer evangelischer Theologen seit 1978 jährlich eine Gruppe von Theologiestudenten aus Deutschland, der Schweiz, Österreich und der Tschechischen Republik zum Studium der jüdischen Traditionsliteratur an die Hebräische Universität nach Jerusalem schickt (18).
Alle diese Initiativen trugen dazu bei, daß der Staat Israel zunächst überhaupt von der evangelischen Christenheit in Deutschland wahrgenommen wurde, daß man für seine Anerkennung, sein Existenzrecht in sicheren Grenzen und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen eintrat, und daß seine Wirklichkeit zunehmend differenzierter betrachtet wurde (19).
Diese immer differenziertere Wahrnehmung brachte auch kritische Reflexionen mit sich, etwa im Blick auf die israelische Politik in den 1967 eroberten Gebieten, was dazu führte, daß manche Israelis, die von Christen aus Deutschland eine unbedingte Unterstützung erwartet hatten, gelegentlich am Sinn solch intensiven Kennenlernens der israelischen Realität zweifelten.
4.
Mit dem Juni-Krieg von 1967 wurde Israel zum innerchristlichen Streitobjekt. In einer Erklärung des Arbeitsausschusses der christlichen Friedenskonferenz zum Nahostkonflikt vom Juli 1967 wurde Israel „rassistische, religiöse und nationalistische Überheblichkeit" vorgeworfen und sein Krieg mit den arabischen Staaten „in enge[n] Zusammenhang mit dem Vernichtungskrieg, der von den USA in Vietnam geführt wird" (20), gerückt.
Dies war fortan der Ton, der in denjenigen Kreisen der evangelischen Kirchen angeschlagen wurde, die sich bei der Studentenbewegung und ihren Ausläufern und damit auf dem äußersten linken Rand des kirchlichen Spektrums einordneten, namentlich in den Evangelischen Studentengemeinden (21). Israel galt als ‚Vorposten des Imperialismus im Nahen Osten’, als ‚Flugzeugträger der USA’, als ,rassistisch’, ,faschistisch’ und als ‚Apartheidstaat’ - um nur einige der Bannwörter zu benennen, mit denen Israel in den siebziger und frühen achtziger Jahren belegt wurde.
Die Erklärung des Arbeitsausschusses der christlichen Friedenskonferenz blieb jedoch nicht unbeantwortet. Einen Monat später reagierte eine Gruppe von Mitgliedern dieser Friedenskonferenz, an ihrer Spitze Helmut Gollwitzer, der spätere Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland Karl Immer, der westfälische Präses Ernst Wilm und der Göttinger Theologieprofessor Ernst Wolff. Die Gegenerklärung gipfelte in der Selbstverpflichtung:
„Wir Deutsche, die wir in schrecklicher Weise an Israel schuldig geworden sind, haben eine Mitverantwortung für den Staat Israel als die letzte Heimat vieler Menschen, die aus unserem Land stammen und dem von uns Deutschen ins Werk gesetzten Völkermord an den europäischen Juden entronnen sind“ (22).
Es waren auch in den Folgejahren immer wieder evangelische Theologen wie Hellmut Gollwitzer, Rolf Rendtorff, Martin Stöhr und Friedrich-Wilhelm Marquardt, - die sich ihrerseits durch ein ausgesprochen linkes gesellschaftspolitisches Profil auszeichneten und im übrigen entgegen einem in palästinafreundlichen Kreisen weitverbreiteten Klischee keineswegs unkritische Israel-Solidarität betrieben (23) -, die den Parolen und Klischees über Israel aus linksevangelischen Kreisen der ,Palästinasolidarität’ ein differenziertes Bild von Israel und vom Konflikt mit den Palästinensern entgegenstellten.
5.
Die Bemühungen um eine theologische Würdigung des politischen Faktums des Staates Israel wurden vor allem im Umkreis der und von den Barth-Schülern Helmut Gollwitzer und Friedrich-Wilhelm Marquardt intensiv weiter getrieben. Dabei kamen sie immer wieder auch auf den Staat Israel in seinem Konflikt mit den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten zu sprechen. Genannt seien hier nur der Vortrag Gollwitzers von 1963 ‚Der Staat Israel und die Araber’ (24) oder Marquardts Buch ,Die Juden und ihr Land’ (25).
Von der anderen Seite herkommend, nämlich vom politischen Engagement für Israel, aus deim sich dann das theologische Interesse für das christlich jüdische Verhältnis und die Frage nach der theologischen Relevanz des Staates Israel ergab, betrieb Rolf Rendtorff diese Bemühungen. Ich weise hier nur hin auf seine Schrift ‚Israel und sein Land’ (26). Beiden Denkbewegungen gemeinsam war, daß die Reflexion über die politischen Fragen im Zusammenhang mit Israel und dem Nahostkonflikt nie abstrakt, sondern immer im Kontext des Nachdenkens über die deutsche Vergangenheit und der Erneuerung des christlich jüdischen Verhältnisses stand. Ein zentrales Forum dafür war und ist bis heute geblieben die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, in der diese Fragen mit den jüdischen und israelischen Teilnehmern der Arbeitsgruppe zum Teil äußerst kontrovers diskutiert wurden und werden.
Das Verdienst dieser Arbeiten war es vor allem, die zentrale Bedeutung des Landes Israel für jüdisches Selbstverständnis herausgearbeitet und damit erst den angemessenen Verstehensrahmen für die Motive der zionistischen Bewegung und die Interessen israelischer Politik geschaffen zu haben.
6.
Diese Bemühungen trugen ihre kirchenpolitischen Früchte in den siebziger Jahren. Rolf Rendtorff verantwortete als Vorsitzender der Studienkommission Kirche und Judentum der EKD die Verabschiedung der Studie ‚Christen und Juden’ 1975. Im Arbeitsbuch zur Studie ist dem ‚Staat Israel’ ein eigenes Kapitel gewidmet (27) mit einem Unterabschnitt ‚Die Bedeutung des Staates Israel für die Christen’ (28). Das Arbeitsbuch beschränkte sich darauf, die Geschichte Israels und des Konflikts und die verschiedenen Stellungnahmen von Christen zu beschreiben und aufzulisten, ohne selber Stellung zu beziehen. Erst 1991 konnte in der Studie ,Christen und Juden II’ als Minimalkonsens konstatiert werden: „Konsens besteht in der Evangelischen Kirche in Deutschland [...] darin, dafür einzutreten, daß der Staat Israel mit seinen Nachbarn in gerechten Grenzen einen sicheren Frieden findet“ (29). Ausdrücklich wird festgehalten, daß in Bezug auf „theologische Gesichtspunkte" Unterschiede bestehen.
Einen Schritt weit darüber hinaus ging die Evangelische Kirche im Rheinland in ihrem ‚Synodalbeschluß zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden’ von 1980, deren Präses der schon erwähnte Karl Immer war. Dort wird als einer von vier Gründen, sich „der geschichtlichen Notwendigkeit, ein neues Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk zu gewinnen", zu stellen, benannt: „Die Einsicht, daß die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind“ (30). Damit wurde die barthsche theologische Kategorie des Zeichens, die er zum geschichtlich-politischen Phänomen der Gründung des Staates Israel in Beziehung setzte, aufgegriffen und weitergedach (31).
7.
In einem Punkt schlug sich die theologische Arbeit auch in einer direkt politischen Initiative nieder. Bereits im Vorfeld der Zionismus-Resolution der UNO vom 10.11.1975 beschloß die Synode der EKD am 6.11.1975:
„Die Synode bittet den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, alles ihm Mögliche zu tun, daß eine sachgerechte Darstellung und Beurteilung des Zionismus [...] vor allem in den internationalen Gremien gegeben wird. Auf dem Umweg ‚Antizionismus’ dürfen nicht alte und neue Judenfeindschaft geweckt oder geduldet werden.
Der Rat der EKD wird gebeten, die Bundesregierung und ihre internationalen Vertretungen zu ermutigen, ihre ablehnende Stellungnahme gegenüber Definitionen aufrechtzuerhalten, die den Konflikt in Nahost, das Wesen und die Vielfalt des Zionismus sowie die Wirklichkeit des Rassismus falsch interpretieren.
Unsere Kirche trägt - wie unser Staat - eine besondere Verantwortung für das Existenzrecht des jüdischen Staates“ (32).
8.
Ob und in welchem Maße die theologisch-kirchliche Beschäftigung mit Israel Rückwirkungen auf die Politik gehabt hat, ist nicht genau abzuschätzen. Es wäre sicher einmal den Versuch wert, etwa die Mitglieder der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe vergangener und des gegenwärtigen Bundestages zu befragen, inwieweit sie die theologischen und kirchlichen Prozesse zur Kenntnis genommen haben oder sich etwa gar dadurch geprägt finden. Immerhin habe ich Indizien dafür, daß dies sehr wohl der Fall gewesen ist.
Aus meinem persönlichen Umfeld weiß ich aus der langjährigen Zusammenarbeit im Vorstand des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten e.V. mit dem einzigen Bundestagsabgeordneten, den ich persönlich kenne, Christian Sterzing, MdB der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, derzeit der Koordinator des Arbeitskreises Außenpolitik, Abrüstung, Menschenrechte der Fraktion und Mitglied im Auswärtigen Ausschuß, zu berichten, daß Sterzing sich, obwohl selber kein Mitglied einer christlichen Kirche, im Arbeitskreis ‚Kirche und Judentum’ der Evangelischen Kirche der Pfalz an der Erarbeitung einer ‚Arbeitshilfe für Gemeinden, Presbyterien und Bezirkssynoden’ (33) beteiligt hat. In der Vorstandsarbeit zusammen mit Rolf Rendtorff und anderen Theologen ist Sterzing immer über die einschlägigen Ereignisse auf theologischem und kirchlichem Gebiet unterrichtet gewesen und hat diese jeweils mit großem Interesse verfolgt.
9.
Noch aussagekräftiger ist ein Blick auf drei der bisherigen Bundespräsidenten, und das zumal, wenn man sie mit den bisherigen Bundeskanzlern der Bundesrepublik konfrontiert, die allesamt ein bestenfalls rein instrumentelles Verhältnis Israel gegenüber an den Tag gelegt haben.
Gustav Heinemann (34), führendes Mitglied der Bekennenden Kirche und ein Freund Karl Barths (35), war Präses der Synode der EKD in Berlin-Weißensee 1950. Er hat das ‚Wort zur Judenfrage’ aus tiefer Überzeugung mitgetragen und in einem bewegenden Schlußwort folgendes bemerkt:
„Es lag eine Qual um diese Frage nach den Juden und nach dem Volk Israel über uns und in uns. Es ist davon gesprochen worden, wieviel Anläufe die Bekennende Kirche genommen hatte, um zur Judenfrage ein lösendes und befreiendes Wort zu sprechen. Es wurde uns damals nicht geschenkt, und dieses Versäumnis, ja diese Schuld ging als diese Qual mit uns. Heute morgen war es wohl vielleicht die letzte Chance, die uns noch gegeben wurde, hierzu das zu sagen, was uns oblag. Gott schob uns diese Frage einfach in den Weg“ (36).
Heinemann hat in der Folge immer wieder engagiert gegen Antisemitismus Stellung bezogen. Er war als erster Bundespräsident in Israel, wenn auch nicht in offizieller Mission auf Staatsbesuch - was in der damaligen Situation so kurz nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen 1965 wohl noch nicht möglich gewesen wäre -, sondern nach seiner Wahl und vor seiner Amtseinführung als Gast der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir (37). Nach seinem Tod hat denn auch Nachuni Goldmann, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, betont, „mit ihm freundschaftlich verbunden gewesen zu sein", und in Israel erinnerte Hanni Ullmann an „seine Freundschaft mit Israel“ (38).
10.
Der erste Bundespräsident auf Staatsbesuch in Israel war 1985 Richard von Weizsäcker. Von Weizsäcker war von 1964-1970 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags und von 1977-1983 Mitglied des Präsidiums des DEKT (39). In seinen ‚Erinnerungen’ hebt er ausdrücklich hervor:
„Einen starken Eindruck hinterließ mir auf den Kirchentagen die Arbeitsgemeinschaft ‚Juden und Christen’. Hier kam es zu den ersten ernsthaften Gesprächen nach dem Holocaust. Es waren Teilnehmer aus Israel und der Bundesrepublik [...] Unvergeßlich ist mir, wie der aus Deutschland nach Israel ausgewanderte Ernst Simon jüdische Bibelauslegungen vortrug, von denen jeder evangelische Professor der evangelischen Theologie etwas lernen konnte. Mit unerbittlicher, aber nicht unversöhnlicher Wahrheitsliebe redete uns [...] Robert Raphael Geis ins Gewissen, indem er das geschichtliche Verhalten von Christen an den Grundsätzen ihres Glaubens maß. Aber auch den Teilnehmern aus Israel wurde keine Frage nach ihrer Verantwortung für die Palästinenser im Nahen Osten erspart“ (40).
Es wird nicht zuletzt diese Tuchfühlung zu den Versuchen evangelischer Theologie und Kirche, zum Judentum ein neues Verhältnis zu finden, gewesen sein, die seine Einstellung zur deutschen Geschichte prägte, wie sie dann in der berühmten Rede zum 8. Mai 1985 auf den Punkt kam - als Kontrastprogramm gewissermaßen zu Bundeskanzler Kohls Gerede von der „Gnade der späten Geburt“ bei seinem Israel-Besuch 1984.
11.
Der Staatsbesuch in Israel war nicht Weizsäckers erster Israelbesuch. So vertrat er 1973 zusammen mit Hans-Jochen Vogel und Carlo Schmid die Bundesrepublik bei der Beerdigung von David Ben Gurion und war 1981 als Regierender Bürgermeister von Berlin bei Teddy Kollek in Jerusalem zu Gast.
Seine Rede zum 8. Mai 1985 hatte auch in Israel Furore gemacht und den Staatsbesuch Weizsäckers gefördert, der aufgrund des angekündigten Exports deutscher Waffen nach Saudi Arabien und des kurz zuvor erfolgten israelischen Bombardements des PLO-Hauptquartiers in Tunis unter denkbar schlechten Rahmenbedingungen stattfand. Israels Staatspräsident Chaim Herzog pries „Weizsäcker als Freund Israels, dessen 8.-Mai-Rede die ‚Schranken zwischen den neuen Generationen in unseren beiden Ländern’ gehoben habe und ‚eines der eindrucksvollsten Dokumente unserer Zeit’ sei“ (41). Vor allem mit dieser Rede, wie aber auch mit seinem Verhalten während des Besuchs in Israel konnte von Weizsäcker vieles von dem Schaden, den der Kohl-Besuch ein Jahr zuvor angerichtet hatte, wett machen und das Ansehen der Deutschen und Deutschlands in Israel gewaltig verbessern.
Und schließlich (42) ist Johannes Rau ein anerkannter ‚Freund Israels’. Auch Rau hat lange Jahre als Landessynodaler der EKiR in einem wichtigen kirchlichen Gremium mitgewirkt. Er war 1980 Mitglied der rheinischen Synode, die den vielbeachteten Beschluß ‚Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden’ faßte, und hat dem Erläuterungsband ,Umkehr und Erneuerung’ ein Geleitwort vorangestellt, in dem er ausführlich auf Gustav Heinemann, seinen politischen Ziehvater, und auf die Verpflichtung der Deutschen und Christen, zur Existenzsicherung Israels beizutragen, einging (43).
Sein Staatsbesuch in Israel im Jahr 2000 soll seine sage und schreibe 31. Reise nach Israel gewesen sein. Ihm wurde die besondere Ehre zuteil, als erster Deutscher eingeladen zu werden, eine Rede in der Knesset zu halten.
Diese drei Repräsentanten Deutschlands, alle drei aktive Mitglieder der evangelischen Kirche und intensiv an den Bemühungen um eine neues Verhältnis zwischen Christen und Juden beteiligt, haben in Wort und Tat deutlich dokumentiert, daß ihnen die deutsch-israelischen Beziehungen ein persönliches Anliegen weit jenseits außenpolitschen Kalküls waren bzw. sind. Sie haben gerade so das Ansehen Deutschlands gefördert. Und sie sind beredte Belege dafür, daß die theologischen und kirchlichen Bemühungen um eine Erneuerung der christlich jüdischen Beziehungen in den politischen Raum hinein Wirkung gezeigt haben.
12.
In den Evangelischen Kirchen in Deutschland hat nach 1945 ein radikales Umdenken eingesetzt. Gut fünfzig Jahre später läßt sich feststellen, daß die eingangs skizzierte, geschichtstheologische Auffassung, die noch 1945 Allgemeingut war, überwunden ist. Weder in der theologischen Lehre, noch in kirchlichen Äußerungen spielt sie noch irgendeine Rolle, und das läßt hoffen, daß sie auch in den Köpfen der Christlnnen überwunden ist.
Dazu hat einerseits die immer stärker werdende Einsicht in die Mitschuld christlicher Theologie und kirchlicher Lehre an der Ausgrenzung und Verächtlichmachung der Juden, die dann den Massenmord möglich gemacht haben, geführt. Noch viel stärker aber hat dazu beigetragen, daß ChristInnen JüdInnen in Deutschland und vor allem in Israel begegnet sind und an ihnen und von ihnen gelernt haben, wie lebendig dieses Volk und wie vital seine Verbindung zum Land Israel ist.
Die evangelischen Kirchen in Deutschland vertreten daher heute einmütig das Recht Israels auf sichere Existenz in anerkannten Grenzen, ohne darüber die Rechte der Palästinenser zu ignorieren. Darüberhinaus fördern sie den intensiven Austausch mit Israel. Eine Einigkeit über eine theologische Bewertung des Staates Israel konnte bisher nicht gefunden werden, was aber vielleicht gar kein Schade ist. Denn wenn der Staat Israel sachgerecht theologisch gewürdigt werden kann, ohne daß wiederum plumpe geschichtstheologische Festlegungen dabei herauskommen, dann sicher nur in der hochdifferenzierten Form, in der der rheinische Synodalbeschluß das versucht hat. Daß diese doch recht anspruchsvolle Art des Denkens und Formulierens sich nicht überall durchgesetzt hat, ist nicht verwunderlich.
Als Wermutstropfen bleibt zu notieren, daß dieser Umkehrprozeß, der vielen in den Kirchen zum Herzensanliegen geworden ist, sich an den Stätten theologischer Lehre nur punktuell durchgesetzt hat. Akademische Theologie sperrt sich bis heute in einem erschreckend hohen Maße gegen die Notwendigkeit der eigenen Umkehr und Erneuerung.
Das Bild in der Politik ist zwiespältig. Zumeist ist das Verhältnis zu Israel und den Juden nach wie vor ein instrumentelles. Indiz dafür ist für mich immer wieder, wenn Politiker über die Wirkung antisemitischer Vergehen auf das Ansehen Deutschlands im Ausland reflektieren.
Die rühmliche - und aufgrund ihres Amtes glücklicherweise hochrepräsentative - Ausnahme in der politischen Sphäre sind die drei durch den Umkehrprozeß in der Evangelischen Kirche mitgeprägten Bundespräsidenten Heinemann, von Weizsäcker und Rau. Sie setzen Maßstäbe, von denen ich mir wünsche, daß viele andere sie sich angelegen sein lassen. Enger Kontakt zur Arbeit der evangelischen Kirchen kann in dieser Sache, so hoffe ich gezeigt zu haben, nicht schaden.
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(1) Eine Ausnahme stellen manche angloamerikanische, anglikanische oder aus der reformierten Tradition hervorgegangene Konfessionen dar. Vgl. dazu: Don Peretz, Die Wurzeln der amerikanischen Unterstützung für Israel. In: Israel und die USA. Eine strategische Partnerschaft und ihr kulturelles Fundament. Schwalbach 1999 (israel & palästina Themenheft 53), S. 4-10.
(2) Flavius Josephus, De bello judaico - Der jüdische Krieg. Zweisprachige Ausgabe der sieben Bücher, hg. v. Otto Michel u. Otto Bauernfeind. Darmstadt 1959/1963.
(3) Z.B. in der Rede des Eleazar auf Massada: ebd. VII, S. 327-329.
(4) byom 9b [Babylonischer Talmud, Traktat Yoma]: „Aber warum wurde der zweite Tempel zerstört, obwohl man sich mit der Tora und den Geboten befaßte und Almosen gab? Weil es in ihm sinnlosen Haß gab".
(5) Zur Rezeption des ‚Bellum Judaicum’ in diesem Sinne vgl. Heinz Schrekenberg, Josephus und die christliche Wirkungsgeschichte seines ‚Bellum Judaicum’. In: ANRW 2., 2U1 (1984), S. 1106-1217.
(6) Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland: Wort zur Judenfrage vorn April 1950. In: Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, hg. v. Rolf Rendtorff und Hans Hermann Henrix. 2. Aufl. München 1989, S. 548 f.
(7) Karl Barth, Kirchliche Dogmatik. Bd. 111/3 Zürich 1950, S. 238.
(8) Ebd. S. 227.
(9) Ebd. S. 231.
(10) Ebd. S. 256.
(11) Ebd.S. 225.
(12) Ebd. S. 240.
(13) Ebd. Alle Hervorhebungen im Original. Mit der Formulierung „es war offenbar [...] nicht so gemeint" dementiert Barth implizit eigene frühere Aussagen, z.B. aus dem 1940 erschienenen Band: Kirchliche Dogmatik II/1, S. 542: „Es gibt, nachdem der Messias Israels erschienen [...] ist, [...] kein heiliges Land mehr, [das] man auf der Landkarte als solche[s] bezeichnen könnte".
(14) Michael Krupp, Dreißig Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel. Fast ein Stück Selbstbiografie. In: Normal ist das Besondere. Streiflichter aus 30 Jahren deutsch-israelischer Beziehungen, hg. von Andrea Kaiser u. Tobias Kriener. Schwalbach/Tns. 1996 (Schriftenreihe des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten e.V. Bd. 26), S. 13.
(15) Vgl. Friedrich-Wilhelm Marquardt, Begegnungen mit Juden. In: Ders., Verwegenheiten. Theologische Stücke aus Berlin. München, 1981, S. 145.
(16) Vgl. Martin Stöhr, Kirche und Israel. Ein Lernprozeß hat gerade erst begonnen. In: Deutschland und Israel: Solidarität in der Bewährung. Bilanz und Perspektive der deutsch-israelischen Beziehungen, hg. v. Ralf Giordano. 2. Aufl. Gerungen, 1993, S.221.
(17) Ebd. S. 223.
(18) Ebd. S. 224.
(19) Vgl. Freundschaft mit Israel. Erfahrungen-Einsichten-Konsequenzen. Rolf Rendtorff im Gespräch. Frankfurt a.M. 1990 (israel & palästina - Zeitschrift für Dialog, Sonderheft 23), S. 5-25.
20 Arbeitsausschuß der christlichen Friedenskonferenz zum Nahostkonflikt, Erklärung vom 4. Juli 1967. In: Die Kirchen und das Judentum (wie Anm. 6), S. 347.
(21) Vgl. Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses. 2. Aufl. Frankfurt 1994 (Schriftenreihe des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten, Bd. 20), S. 147-150. Eine gründliche Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels von Anpassung eines sich als emanzipatorisch verstehenden Segments der evangelischen Kirche an den damals an den Universitäten herrschenden Zeitgeist ist ein dringendes Desiderat der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung.
(22) Mitglieder der christlichen Friedenskonferenz, Gegenerklärung vom 9. August 1967, in: Die Kirchen und das Judentum (wie Anm. 6), S. 349.
(23) Erinnert sei nur an den Eklat, den Helmut Gollwitzer 1978 anläßlich eines Vortrags in Beer Scheva auslöste, als er eine Bemerkung Bubers zitierte, in der dieser davor warnte, daß die Juden in eine „Herrenvolk-Position" hineingeraten (vgl. dazu Rolf Rendtorff, Hat sich unser Israel-Engagement gewandelt? In: Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Helmut Gollwitzer zum 70. Geburtstag, hg. von Andreas Baudis. München, 1979, S. 155-166), oder daran, daß Rolf Rendtorff als Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten einen klaren Trennungsstrich zu der in der DIG [Deutsch-israelische Gesellschaft] zeitweise geforderten unkritischen Israelsolidarität zog, vgl. dazu ders., Freundschaft mit Israel (wie Anm. 19).
(24) In: Helmut Gollwitzer, Vietnam, Israel und die Christenheit. München 1967, 55-95.
25 2. Auf. Gütersloh 1978(GTB 189).
(26) Israel und sein Land. Theologische Uberlegungen zu einem politischen Problem. München 1975 (TEH, NF 188); weitere Veröffentlichungen Rendtorffs zu diesem Thema in: Freundschaft mit Israel (wie Anm. 19), S. 26. Der Name Martin Stöhr darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben; vgl. ders., Kirche und Israel (wie Anm. 16).
(27) Arbeitsbuch Christen und Juden. Zur Studie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, im Auftr. d. Studienkommission hg. v. Rolf Rendtorff. Gütersloh 1979, S. 197-218.
(28) Ebd. S. 216-218.
(29) Christen und Juden II. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, im Auftr. des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland hg. v. Kirchenamt der EKD. Gütersloh 1991, S. 19 - Zu den Erklärungen vieler Landeskirchen in den achtziger Jahren vgl. Johannes Ehmann, Solidarität mit dem Staat Israel? Der Staat Israel in evangelischen und ökumenischen Dokumenten und Verlautbarungen. In: Kul 7 (1992), 2, S. 149-160.
(30) Synodalbeschluß zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden. In: Umkehr und Erneuerung. Erläuterungen zum Synodalbeschluß der Rheinischen Landessynode 1980 „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden", hg. v. Bertold Klappert u. Helmut Starck. Neukirchen-Vluyn 1980, S. 264.
(31) Zu den sehr differenzierten theologischen Denkprozessen, die sich mit der Formel vom ‚Zeichen der Treue Gottes’ verbinden, ist zu vgl. Bertold Klappert, Zeichen der Treue Gottes. In: ebd. S. 73-100. Klappert wehrt den Vorwurf, der dem Synodalbeschluß vielfach gemacht wurde, er betreibe eine „Eschatologisierung des Staates Israel" ab (ebd. S. 81 f) und interpretiert die Formel als „araaloge[iiJ Begriff, der das Geheimnis der [...] Staatlichkeit Israels in das Licht der prophetischen Verheißungen Gottes stellt und sie von daher als Zeichen der Treue Gottes versteht und bekennt" (ebd. S. 86).
(32) Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Beschlüsse anläßlich der Zionismus-Resolution der Vereinten Nationen vom 6. November 1975. In: Die Kirchen und das Judentum (wie Anm. 6), S. 579. Die entsprechende Erklärung des Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen Philip Potter, ebd. S. 383 f.
(33) Vgl. Rezension in: DtPfrBl 12 (1989), S. 512 f.
(34) Für diesen Abschnitt bin ich Dieter Koch/Bremen für seine freundliche Hilfe und die Verfügbarmachung von Material zu besonderem Dank verpflichtet.
(35) Vgl. Joachim Braun, Der unbequeme Präsident. Karlsruhe 1972, S. 29; die Vertrautheit mit dem Denken Karl Barths ist in vielen Äußerungen Heinemanns offensichtlich, vgl. nur: Der Antisemitismus und seine Folgen. In: Gustav W. Heinemann, Einspruch. Ermutigung für entschiedene Demokraten, hg. v. Diether Koch i. Verb. m.d. Gustav-Heinemann-Initiative. Bonn 1999, S. 72-74 mit Kirchlicher Dogmatik, Bd. 111/3. Zürich 1950, S. 238-256.
(36) Berlin-Weißensee. Bericht über die 2. Tagung der 1. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 23.-27.4.1950, hg. im Auftrag des Rats v.d. Kirchenkanzlei der EkiD. Hannover o.J., S. 397.
(37) Vgl. das Foto in: Einspruch (wie Anm. 35), S. 93.
(38) Stimmen zum Tode von Gustav W. Heinemann, hg. v. Diether Koch u. Martin Lotz. 2. Aufl. Bremen 1976 (JK, Beiheft zu H. 10), S. 33.
(39) Des weiteren war er von 1967-1984 Mitglied der Synode und des Rates der EKD und von 1968-1975 Mitglied des Zentralausschusses des ORK, vgl. Richard von Weizsäcker mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Harald Steffahn. Hamburg, 1991 (rin 479), S. 140 f.
(40) Richard von Weizsäcker, Vier Zeiten. Erinnerungen. Berlin, 1997, S. 161.
(41) Friedbert Pflüger, Richard von Weizsäcker. Ein Porträt aus der Nähe. 2. Aufl. Stuttgart 1990, S. 131.
(42) Von Roman Herzog, auch wenn zeitweise Mitglied der EKD-Kammer für öffentliche Verantwortung, ist in dieser Hinsicht nichts bekannt. In einem ausführlichen biographischen Interview findet sich kein Wort dazu, daß er von den Bemühungen der evangelischen Kirchen zur Erneuerung des Verhältnisses mit dem Judentum irgendwie Kenntnis genommen hätte. In der ihm eigenen Wurstigkeit findet er überhaupt eigentlich nur abfällige Worte für die Arbeit der EKD. Vgl. Der unbequeme Präsident. Roman Herzog im Gespräch mit Manfred Bissinger und Hans-Ulrich Jörges. Hamburg 1994, S. 93-97.
(43) Geleitwort des Ministerpräsidenten. In: Umkehr und Erneuerung (wie Anm. 30), S. XV-XVII.
Abgedruckt in: „Die Gemeinde als Ort von Theologie“. Festschrift für Jürgen Seim zum 70. Geburtstag, hrsg. von Katja Kriener (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 158), Bonn 2002, 91-104
Tobias Kriener
In dem Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel sieht der Alttestamentler Frank Crüsemann die möglicherweise größte Herausforderung für christliche Theologie dieser Tage. Er benennt drei Problemfelder einer christlich-theologischen Beurteilung des Staates Israel und erinnert an drei Aspekte, die für weitere kirchliche Stellungnahmen zum jüdischen Staat zu bedenken sind.
Das Verhältnis Israels zu seinem Land ist kaum bedacht in christlicher Dogmatik. Anders bei Friedrich-Wilhelm Marquardt: Der evangelische Theologe lädt in seiner Eschatologie dazu ein, das jüdische Volk und seinen Staat als "neue Tatsache" wahrzunehmen.
Das politische Ereignis der Existenz Israels bewirkte eine Umkehr im theologischen Denken über das Verhältnis von Kirche und Israel.
"Jetzt können wirs in der Zeitung lesen: Gott hält seine Verheißung.“ - So Karl Barth unter dem Eindruck des militärischen Sieges Israels im Sechtstagekrieg.
Eine Dokumentation von Auszügen aus kirchlichen Beschlüssen und theologischen Stellungnahmen.