Glaubensbekenntnis in der jüdischen Religion

Der Heidelberger Katechismus wurde als Unterrichtsbuch entworfen und auch so benutzt. Bald bekam er aber auch die Funktion eines Bekenntnistextes. In reformierten und unierten Kirchen zählt er bis heute zu einer ihrer Bekenntnisgrundlagen.

Wie aber sieht es in anderen Konfessionen oder Religionen mit Glaubensbekenntnissen aus? Vom Judentum wird oft behauptet, dort gäbe es keine solchen Texte. Aber ist das so zutreffend? Michel Bollag vom Zürcher Lehrhaus hat dazu einen informativen Beitrag verfasst.

Glaubensbekenntnis in der jüdischen Religion

Von Michel Bollag*

Die besondere Bedeutung der Einhaltung der Gebote der Tora, einer religiösen Praxis, die alle Lebensbereiche miteinbezieht, charakterisiert das Judentum als eine Religion des Tuns. Diese Feststellung hat in Moderne und Gegenwart verschiedentlich zur Behauptung verleitet, das Judentum kenne keine Dogmen, keine verbindliche Glaubenswahrheiten. Häufig wurde diese Meinung seit Beginn der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in polemisch-apologetischer Absicht im Kontext jüdisch-christlicher Dialoge geäussert.[1] So formuliert ist diese Meinung zu plakativ, damit auch falsch und bedarf der Nuancierung und Präzisierung.
 
Bereits ein kurzer Einblick in die jüdische Liturgie, die sich kontinuierlich aus Elementen des früheren Tempeldienstes und den strukturellen und inhaltlichen Leitfäden, die mehrere Generationen von Rabbinen der Mischna und des Talmuds schufen, herausgebildet und im 10. Jahrhundert ihre kanonisierte Form, den Siddur, erhalten hat, zeigt, dass es sehr wohl fundamentale Elemente gibt, die den jüdischen Glauben konstituieren, den der betende Jude zwei Mal täglich ausspricht. Es ist zunächst das zentrale Bekenntnis zum einen Gott, welches im Vers „Schema Israel, JHWH Eloheinu, JHWH Echad; Höre Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH ist eins“ formuliert ist (Deut. 6,1). Dieser Gott – so steht es in drei Segensformeln, zwei vor und eine nach dem Schema Israel –, erschafft Licht und Finsternis, gibt die Tora seinem Volk Israel und hat sein Volk aus Ägypten erlöst. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich aber auch, dass nebst dem kognitiven Element des Bekenntnisses eine unmittelbare Aufforderung zu konkreten Handlungen im Text des Schema Israel enthalten ist: „Liebe den Ewigen Deinen Gott, mit Deinem ganzen Herzen, Deiner ganzen Seele und Deinem ganzen Vermögen (Deut. 6,2) … Schärfe sie (diese Worte) deinen Kindern ein … Binde sie als Zeichen auf Deine Hand und sie seien zum Wahrzeichen zwischen deinen Augen. Schreibe sie auf den Pfosten deiner Häuser und deiner Tore (Deut. 6,4-6).“ Die Praxis der Gebote ist aus biblischer und rabbinischer Sicht unumgänglich zur Abwendung des Götzendienstes, welcher die potentiell stets vorhandene Gefahr ist, die dem Hören auf den Einen Gott im Wege steht, wie dies im zweiten Teil der Rezitation des Schema Israel formuliert ist (Deut. 11,13-21). Diese Abwendung von falschen, verführenden Mächten stellt die eigentliche Herausforderung auf dem Weg zum Heil dar. Leben und Tod im Land, das Gott den Kindern Israels gibt, hängen von der Abwendung vom Götzendienste ab. Aus biblischer Sicht wären die Tora und ihre Gebote somit als Handlungsanweisung auf dem Weg zur Abwendung des Götzendienstes zu verstehen und zum Erlangen eines Heils, welches das gute Leben ist, das Gott seinem Volk schenkt, wenn es seine Gebote einhält. Es geht also um die Treue zum einen Gott, dessen Hilfe man erfahren hatte.
 
Vorläufiges Fazit: Die in der Liturgie formulierten Glaubensinhalte sind ein verbindliches Fundament des Judentums. Stützt man sich auf den biblischen Text, führen sie jedoch nur dann zum Heil, wenn ihnen die guten Taten folgen, das heisst mit der Ausführung der Gebote (Mizwot), sowohl der sozialen, welche die zwischenmenschlichen Beziehungen regeln, als auch der rituellen, die die Juden an ihre Bindung an Gott erinnern und zur Heiligung des Lebens auffordern. Diese Anschauung, die den Vorrang der Taten auf dem Weg zum Heil betont, ist für jüdisches Denken bis heute prägend geblieben.
 
Im Verlauf der jüdischen Geistesgeschichte, die im Kontext der Auseinandersetzung des Judentums mit den durch alle Epochen hindurch auftretenden religiösen und philosophischen Strömungen zu lesen ist, wurde jedoch kontrovers darüber debattiert, ob das Bekennen von religiösen Dogmen in Analogie zum Christentum und zum Islam zum Erlangen dessen, was man als Heil definiert, jenseits der Gebotspraxis eine besondere, entscheidende Rolle einnimmt. Bejahte man diese Frage, folgerte daraus die nächste, nämlich welches diese Glaubensaussagen seien.
 
Die Bedeutung von Glaubensinhalten als Grundlage für das Erlangen des Heils manifestiert sich in der Antike zunächst im Zusammenhang mit den Abgrenzungsbemühungen des entstehenden Judentums gegenüber konkurrierenden Glaubensbekenntnissen, unter anderem – aber nicht nur – dem christlichen. Die klassische Stelle, die so etwas wie jüdische Dogmen dokumentiert und den Nukleus einer orthodoxen jüdischen Theologie fundiert, wie sie später von Maimonides (siehe unten) formuliert wurde, ist die erste Mischna des 11. Kapitels im Traktat Sanhedrin (Gerichtbarkeit):
 
Ganz Israel hat Anteil an der Welt, die kommt, denn es heisst: „Und dein Volk – sie sind alle Gerechte, für ewig werden sie das Land besitzen, ein Zweig meiner Pflanzungen, meiner Hände Werk, zur Verherrlichung (Jesaja 60,21).“ Folgende haben keinen Anteil an der zukünftigen Welt: Wer sagt, die Auferstehung der Toten sei nicht von der Tora herzuleiten oder die Tora sei nicht von Gott gegeben.
Rabbi Akiwa sagt: Auch wer apokryphe Bücher liest und wer über eine Wunde flüstert und sagt: „Keine der Krankheiten, die ich auf Ägypten gelegt habe, werde ich auf dich legen, denn ich der Ewige bin dein Arzt“ (Exodus 15,26).
Abba Schaul sagt: Auch wer den Namen Gottes mit seinen Buchstaben ausspricht.
 
Festgehalten wird also zunächst, dass alle Juden Anteil am Heil haben, am Olam haba, der Welt, die kommt, wie der Text es sagt oder der zukünftigen Welt, wie es meist übersetzt wird. Was darunter zu verstehen ist, ist nicht von vornherein immer und überall definiert. Der gemeinsame Nenner aller Interpretationen ist, dass es eine Wirklichkeit gibt, die unsere transzendiert.
Auch diejenigen, die die Gebote übertreten, haben einen Anteil an diesem Heil. Nicht Anteil daran haben aber Ketzer, Juden also, die Glaubensaussagen leugnen, die für die Rabbinen die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Auffassungen des Judentums markieren. Die Grenze zwischen Judentum und Christentum wird also im Kontext des Ringens um das eigene Selbstverständnis an Glaubenswahrheiten, an Dogmen festgemacht, Orthodoxie und Heterodoxien entstehen.
 
Im Achtzehn Bitten Gebet, – also im nebst dem Schema Israel wichtigsten Gebet – wurde die Auferstehung von den Toten aufgenommen. Die Kernaussage der Mischna in Sanhedrin, die für das Selbstverständnis des rabbinischen Judentums grundlegend war und die es für die jüdische Tradition bis heute geblieben ist, liegt aber nicht im Glauben an die Auferstehung selbst, sondern in der Verknüpfung zwischen der Auferstehung und der Tora. Hier wird das grundlegende Dogma des rabbinischen Judentums fundiert. Der Mischna geht es hier um den Offenbarungscharakter der mündlichen Tora. Denn nur wenn man annimmt, dass schriftliche und mündliche Tora von Gott Moses am Berg Sinai offenbart wurden, kann die Auferstehung von den Toten, die in der geschriebenen Tora niemals vorkommt, aus der Tora hergeleitet werden. Hier legen die Rabbinen im Kontext der Auseinandersetzung mit dem frühen Christentum als Dogma fest, dass die jüdische Religion nicht einzig und allein auf den fünf Büchern Moses, der schriftlichen Tora und den weiteren Heiligen Schriften der Hebräischen Bibel fundiert, sondern auf der Autorität der Moses offenbarten mündlichen Tora.
 
Auffallend und charakteristisch an dieser Quelle ist aber auch die Vielfalt der Meinungen betreffend der Glaubensinhalte, die zur Erlangung des Heils notwendig sind.
Sowohl in dieser Mischna als auch im unmittelbaren Kontext der gesamten Talmudstelle gibt es Aussagen, die es nicht in die Liturgie geschafft haben. Obwohl beispielsweise Rabbi Akiwas Aussage, dass apokryphe Bücher nicht Teil des Kanons sind, allgemein anerkannt ist, hat diese nicht den Rang eines Dogmas erlangt, von dem das Heil abhängen würde. Sie ist rein im Kontext historisch begrenzter Auseinandersetzungen mit anderen religiösen Glaubensrichtungen zu verstehen.
Die Vielfalt der Meinungen die Dogmen betreffend und deren Verbindlichkeit ist wegweisend für das Verständnis von deren Stellung im Judentum. Sie zeigt, dass es Glaubenswahrheiten gibt. Darüber bestand von der Antike bis zu Beginn der Neuzeit Einigkeit. Axiomatisch formulierte Glaubenswahrheiten sind die Kristallisation theologischer Denkprozesse und deshalb für die Religion unverzichtbar. Schriftliche Versuche, Dogmen zu formulieren unterstehen jedoch im Judentum ebenso einem kontroversen Interpretations- und Diskussionsprozess, wie sämtliche anderen Texte des Judentums. Sich zu einem Glauben zu bekennen ist somit nicht Ende sondern Anfang des Denkens. Dogmen waren immer Ausgangspunkt für weitere Fragen und im Rahmen dieses Prozesses stellte sich die Frage, welche Dogmen nun grundlegend für das Judentum seien und welchen Stellenwert diese in Bezug auf die Zugehörigkeit zum Judentum, dem Verhältnis zu den Geboten und dem Erlangen des Heils haben.
 
Während die Aussage des Talmuds, gemäss der, wer eine jüdische Mutter hat, jüdisch ist, heute für das Judentum Vorrang hat, war das Judentum im Mittelalter wesentlich durch das Bekenntnis zum jüdischen Glauben konstituiert.
Der bis heute bekannteste und nachhaltigste Versuch, Fundamente der jüdischen Religion als verbindliche Glaubenswahrheiten zu formulieren und das Anteilhaben an der Welt, die kommt, vom Bekenntnis zu ihnen abhängig zu machen, ist derjenige des Rabbiner Moses ben Maimon (Maimonides, 1135 Cordoba-1204 Fustat). In seinem ersten Meisterwerk, dem Kommentar zur Mischna, formuliert er in einer Einführung zum 11. Kapitel des Traktates Sanhedrin, jenem Kapitel, in dem sich der Talmud mit Glaubensfragen befasst, folgende 13 Fundamente oder Prinzipien (Ikarim):
 
1.      Existenz Gottes. Alles Seiende existiert nur, weil er existiert.
2.      Gott ist eins und einzigartig.
3.     Gott ist kein körperliches Wesen.
4.     Gott ist der Anfang alles Seienden.
5.     Nur diesen Gott darf man anbeten.
6.     Die Propheten sagen das Wort Gottes.
7.     Moses ist der grösste aller Propheten.
8.     Die ganze Tora wurde von Gott dem Moses gegeben.
9.     Die Tora wird niemals durch eine andere Lehre ersetzt.
10. Gott kennt alle Handlungen des Menschen.
11. Gott belohnt diejenigen, die seinen Geboten folgen und bestraft diejenigen, die sie übertreten.
12. Gott wird einen Erlöser (den Messias) senden.
13. Gott lässt die Toten auferstehen.
 
In keinem seiner beiden neben dem Kommentar zur Mischna bedeutsamen Werke, weder dem Kodex Michne Tora, dem frühsten systematisch aufgebauten Kodex der Halacha, des jüdischen Rechtes, noch in seinem philosophischen Werk, dem More Hanewuchim führt Maimonides die dreizehn Prinzipien nochmals in dieser formalen Struktur auf. Ja, vielmehr in einer halachischen Quelle, in der Fragen der Konversion zum Judentum behandelt werden, ist von einem notwendigen Bekenntnis zu den dreizehn Fundamenten keine Rede.
Er stipuliert lediglich: „Ihm (dem Proselyten) sollen die Prinzipien des Glaubens beigebracht werden: das sind die Einheit Gottes und das Verbot des Götzendienstes.“ Diese halachische Bestimmung des Maimonides fundiert nicht auf dem Talmud, wo lediglich gesagt wird, „man lehre ihm (dem Proselyten) einige der schweren und einige der leichten Gebote.“
Die Vielschichtigkeit des maimonidischen Denkens und die auftretenden Widersprüche zwischen Aussagen in verschiedenen Werken sind Thema der bereits zu seinen Lebzeiten einsetzenden rabbinischen Debatte und der modernen und gegenwärtigen Judaistik. Das Verhältnis zwischen der Heilsfrage und der Zugehörigkeit zum Volk Israel ist ein komplexes. Umstritten ist auch die Frage, ob Maimonides alle dreizehn Fundamente gleichwertig behandelt, oder ob es graduelle Unterschiede gibt. Fakt bleibt, dass Maimonides der Überzeugung war, dass nur wer die Wahrheit über Gott kennt, Anteil am Heil hat und diejenigen, welche irren, davon ausgeschlossen sind. In Anlehnung an die Mischna, die wir weiter oben zitiert und erläutert haben, schreibt er: „Und wenn der Mensch alle diese Fundamente glaubt, dann gehört er zur Gemeinschaft Israels. Ihn muss man lieben und sich seiner erbarmen, auch wenn er sündigt aus Begierde und aus der Macht der Natur; dann wird er bestraft gemäss seinen Sünden, aber er hat Anteil an der kommenden Welt (…) Wenn aber der Mensch eines dieser Fundamente ablehnt, dann hat er die Gemeinschaft Israels verlassen und das Grundprinzip geleugnet und wird Minäer und Epikoros genannt.“
 
Obwohl Maimonides Fundamente als zentral für das Judentum betrachtet werden, ist seine Berücksichtigung gerade dieser dreizehn Artikel als der grundlegenden Fundamente des Judentums und seine Auffassung, dass es ohne den Glauben an gerade diese dreizehn Fundamente keine Zugehörigkeit zum Judentum und kein Heil gebe, heftig umstritten.
So hat zum Beispiel Albo nur drei Dogmen als grundlegend festgehalten: Die Existenz Gottes, der Offenbarungscharakter der Tora und der Glaube an Strafe und Belohnung.
Andere Gelehrte weisen darauf hin, dass in Maimonides Aufzählung die aus ihrer Sicht essentiellen Dimensionen der Erwählung Israels und der Gabe des Landes Israels an das jüdische Volk fehlen würden. Was die Charakterisierung von ungläubigen Juden als Häretiker betrifft, die vom Judentum ausgeschlossen wären oder keinen Anteil am Heil hätten, wurde weder im voraufklärerischen traditionellen Judentum noch im orthodoxen noch im ultra-orthodoxen Denken der Moderne Maimonides Meinung konsensfähig, trotz der unbestrittenen rabbinischen und philosophischen Statur des Maimonides.
Maimonides Haltung ist mit seiner Auffassung von Unsterblichkeit in Verbindung zu bringen. Sie ist im Rahmen seiner philosophisch begründeten Theologie keine göttliche Belohnung, im Sinne einer jenseits der Natur existierenden Dimension, sondern Folge eines natürlichen Prozesses, der von der intellektuell-geistigen Verbindung des Menschen mit Gott abhängt. Die Einhaltung der Gebote ist in dieser Konzeption als reine propädeutische Phase zu betrachten, die den Menschen auf das Wesentliche vorbereiten: Die Erkenntnis der geistigen Dinge, die Verbindung mit dem reinen Intellekt, das heisst der vollkommenen oder möglichst grössten Annäherung des Menschen an Gott, das heisst der vollkommenen Vergeistigung des Menschen. Es ist dieses Wissen, welches als natürliche Folge zur Unsterblichkeit führt. Wenn jemand häretische Auffassungen hegt, dann führt dies zu einer Blockade auf dem Weg zur geistigen Vollkommenheit. Aus dieser Sichtweise sind die Gebote eine notwendige,  aber nicht hinreichende Bedingung zum Erlangen des Heils. Dass diese Auffassung in der jüdischen Tradition auf Widerstand stösst, vermag nicht zu erstaunen. Viel erstaunlicher, ja bezeichnend ist die Tatsache, dass einerseits an Maimonides trotz des heftigen Widerspruches, den sein Werk bis heute hervorruft, keine rabbinische Gelehrsamkeit vorbeigeht und dass die dreizehn Glaubensartikel, trotz deren in Frage Stellung von Gelehrten einen hohen Popularitätsgrad geniessen.
Nebst der Autorität und Ausstrahlung, die Maimonides, vor allem dank seiner rabbinischen Meisterwerke, in der jüdischen Welt erreichte, war es das Bedürfnis, vielleicht auch die Notwendigkeit nach einem äusserlich-formalen Äquivalent zum christlichen Glaubensbekenntnis wie auch zu islamischen Formeln der Glaubensbezeugung, die eine derart starke Verbreitung und populäre Akzeptanz der dreizehn Glaubensprinzipien ermöglichten, trotz des Widerspruchs, die sie in Gelehrtenkreisen erfuhren. Diese Popularität führte zu verschiedensten Versuchen, die dreizehn Fundamente in einfach rezitierbaren und memorisierbaren Fassungen zu formulieren. Zwei davon wurden berühmt und schafften es in das jüdische Gebetbuch, dem Siddur. Zum einen das Gedicht „Ygdal“ von Daniel ben Yehuda Dayan (14. Jahrhundert) aus Rom, welches ab dem 15. Jahrhundert in den Aschkenasischen Siddur aufgenommen wurde und in vielen Gemeinden bei verschiedenen Gelegenheiten bis heute rezitiert wird, meistens am Schabbat oder an Feiertagen.
Zum anderen ist es das wie eine Art Katechismus von einem unbekannten Autor formulierte „Ani maamin – Ich glaube eines vollständigen Glaubens“, welches im aschkenasischen Siddur am Schluss der Morgenliturgie gedruckt steht. Deren integrale Rezitation wurde jedoch weder zur halachischen Norm, noch zu einem verbreitet anerkannten Brauchtum. Als Versuch, einen im scholastischen Stil formulierten dogmatischen Text zu popularisieren, ist das „Ani maamin“ auch eine Vereinfachung des im philosophischen Stil formulierten Textes des Maimonides und enthält damit auch Abweichungen von dessen ursprünglichem Inhalt.
Seit dem 19. Jahrhundert ist in der Orthodoxie eine in der jüdischen Tradition neuere Tendenz zu beobachten, den dreizehn Glaubensartikeln einen dogmatischen Stellenwert beizumessen, an dem kein Jude, ob eingeboren oder Proselyt, vorbeikommt. Sie werden als abschliessende und nicht als zur Debatte einladende Glaubensartikel angenommen und als solche vehement gegen jeglichen Widerspruch auch innerhalb der orthodoxen Welt verteidigt. Diese Haltung ist im Kontext der Auseinandersetzung mit den progressiven Bewegungen (Reformjudentum, Conservativ und Reconstructionist) zu sehen, die viele dieser Fundamente des jüdischen Glaubens radikal in Frage gestellt hatten und teilweise immer noch stellen, so zum Beispiel die Offenbarung der Tora an Moses.
 
Zusammenfassend sollen folgende Punkte festgehalten werden:
Das Judentum kennt Glaubenswahrheiten. Sie sind in der traditionellen Liturgie, besonders in dem Teil, in welchem das Schema Israel gelesen wird, und im Achtzehn Bitten Gebet ersichtlich. Die zentralsten davon sind die Existenz und Einheit Gottes, sowie die Offenbarung der Tora an das jüdische Volk. Gerade bei dieser zweitgenannten Glaubenswahrheit ist die Interpretationsbandbreite bis heute sehr gross, auch wenn die Orthodoxie die Deutungshoheit über sie für sich in Anspruch nimmt. Anzahl und Stellenwert der Dogmen im Judentum sind umstritten. Sie wurden nie von einer allgemein anerkannten kirchenähnlichen religiösen Institution jenseits des in der Liturgie Bekannten im Sinne einer Bekenntnisformel rezipiert und regelmässig feierlich im Gottesdienst rezitiert. Die zwei auf den maimonidischen Versuch zurückgehenden populären Texte, in einer rationalen Sprache Dogmen zu formulieren, das katechetische „Ani Maamin“ und das poetische Ygdal, haben im Siddur ihren Platz gefunden. Emotional haben sie eine grosse Bedeutung, ihr theologisches Gewicht ist nie über die Texte hinausgegangen, die zur Zeit der Kodifizierung der Liturgie im 10. Jahrhundert festgelegt wurden und täglich im Gottesdienst gebetet werden.


[1] Siehe Zwi Kurzweil, The modern Impulse of traditional Judaism, Hoboken, NJ 1985 und Jeschayahu Leibowitz, Judaism, Human Values and the jewish State.

*Lic. phil. Michel Bollag studierte Tora in Jerusalem, Pädagogik, Psychologie und Philosophie in Zürich. Er war Leiter der Religionsschule und dann Rabbinatsmitarbeiter an der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich. Er ist Fachreferent für Judentum und Co-Leiter des Zürcher Lehrhauses und Delegierter des Schweizer Israelitischen Gemeindebundes in den Gesprächskommissionen mit der Reformierten und der Römisch-Katholischen Kirche.