THEOLOGIE VON A BIS Z
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»Willst du gesund werden?«
Heil und Heilung im Zusammenhang mit Jesu Heilungen
2. Gottes Helfen und menschliches Heilen
3. Heilung und ihre Grenzen
Einst traf ich den Chefarzt eines Krankenhauses in seinem Dienstzimmer. Hinter seinem Arbeitsstuhl hing eine Reproduktion des Hundertgüldenblatts von Rembrandt, worauf Jesus zu sehen ist, umgeben von seinen Jüngern, von Pharisäern, Zöllnern und Sündern, Müttern mit ihren Kindern, Zureisenden aus der Ferne und dann vor allem Behinderte, Bekümmerte, Arme, Kranke aller Art, sie ihm und er ihnen zugewandt. Etwas töricht fragte ich den Arzt: Sind Sie Kunstliebhaber?
Er antwortete: Ja. auch, aber er pflege seinen Patienten zu sagen: »Ich tue, was in meiner Macht steht. Aber wenn Ihnen geholfen werden soll, dann sind Sie und ich angewiesen auf den« – und dann zeige er auf das Bild. Diese Begegnung sagt in Kürze das, was auch ich zu meinem Thema zu sagen habe. Sie hat mir eingeschärft, daß es offenbar einen Zusammenhang gibt zwischen Heil und Heilung –, und dazu ist im Licht des biblischen Zeugnisses einiges zu sagen. Ich rede unter drei Gesichtspunkten davon.
1. Gottes Heil und Gottes Heilen
Soteria, Gottes Heil ist seine Wohltat, die er dem Menschen aus Gnade zuwendet: die Heraufführung des Friedens mit Gott und unter den Menschen und zugleich die Aufrichtung von Recht und Gerechtigkeit. Soteria heißt auch Errettung – nämlich aus einer tödlichen Gewalt, der wir Raum gegeben haben und die uns so gefangen hält, daß wir uns nicht selbst davor retten können. Wir wären verloren, wenn uns das nicht von Gott widerführe: Rettung aus der Sünde, aus der Trennung, aus der Fremdheit und Feindschaft gegenüber Gott, aus einem Lebensversuch, in dem wir nicht ganz und gar auf ihn und seine Gnade angewiesen sein wollen, und Rettung aus dem Streit, aus der Friedelosigkeit und Ungerechtigkeit, die dieser Lebensversuch zur Folge hat.
Solches Heil, solche soteria widerfährt uns durch den soter, den Heiland Jesus Christus. »Es ist in keinem anderen Namen Heil« als in dem seinen, sagt Apg. 4,12; aber in seinem Namen so sehr, daß nun über Israel hinaus auch Heiden das Heil widerfährt (Röm. 11,11). Nach Mt. 1,21 heißt er Jesus, zu deutsch Retter, »denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden«. Retter ist er in seiner siegreich durchgeführten Auseinandersetzung mit der Trennmacht der Sünde, in der Vergebung der Sünde, so daß sie uns nicht mehr zu unseren Lasten fällt, uns nicht mehr von Gottes Liebe zu scheiden vermag.
Aber nun zeigt das Neue Testament von demselben Jesus Christus noch ein anderes Bild. Er zeigt sich da nicht als der vergebende Heiland der Sünder, sondern als der helfende Heiler von Kranken. Er ist da umgeben von Menschen, denen es nicht gut geht, die leiden, seelisch, aber auch leiblich: Blinde, Lahme, Taube, Beschädigte, Verängstigte, Bedrohte, Versinkende, ja, schon vom Tod Ergriffene, lauter Elende. Er sieht sie nicht als Unwürdige, sondern als Bedürftige. Er fragt sie nicht bloß, ob er ihre Sünde vergeben soll. Er fragt sie: »Willst du gesund werden?« (Joh. 5,6). Und er läßt ihnen zuteil werden, was sie brauchen: »Geh hin im Frieden, und sei von deiner Qual gesund« (Mk. 5,34).
Es ist in ihrem Fall nicht eine böse Verkehrtheit, sondern eine lästige Versehrtheit, die ihm zu Herzen geht, der er widersteht und die er überwindet. Mt. 4,23f. heißt es: »Und er heilte (im griechischen steht: er therapierte) allerlei Krankheit und Gebrechen, und er machte sie alle gesund.« Was er ihnen so gibt, ist nicht unmittelbar geistliches Leben, sondern dies, daß er sie als Gottes Geschöpfe neu aufleben läßt, so daß sie sehen, hören, reden, aufstehen, gehen, wieder festen Boden unter die Füße bekommen, fröhlich essen und trinken können.
Kurz, es zeigen sich im neutestamentlichen Zeugnis zwei verschiedene Linien, die ich mit den Stichworten bezeichnen kann: der Heiland der Sünder, bzw. wie es Paulus sagt: der Versöhner einer von Gott abgefallenen Welt mit Gott, und der Heiler, der Arzt der Kranken und Elenden. Wie passen die beiden Linien zusammen? Passen sie überhaupt zusammen? Die Reformatoren haben besonders die erste Linie betont, unter dem Stichwort: Rechtfertigung des Sünders und Vergebung der Sünden, die uns freignädig geschenkt wird und die wir uns nicht selbst beschaffen können, auf die wir immer angewiesen bleiben.
Die zweite Linie trat dabei nicht ganz zurück, aber doch so sehr, daß der Verdacht entstehen konnte: die Frage des leiblich-seelischen Dranseins des Menschen habe mit unserem Heil eigentlich nichts zu tun, sondern sei ein weltliches Ding, sei es so, daß man sich mit seinem Elend abzufinden habe, sei es so, daß dessen Eindämmung der bloßen menschlichen Vernunft überlassen wurde. So konnte der Eindruck entstehen, als hätte Christus damit nichts zu tun. Es scheint, es gebe heute einen umgekehrten Trend, den der Hervorhebung jener zweiten Linie, unter Zurückstellung der ersteren. Im Heilen und Gesundwerden des Menschen liege schon als solches das Heil.
Es liegt ein Segen in der dabei gemachten Entdeckung und eine Korrektur gegenüber einer Enge der protestantischen Tradition. Aber die Frage ist hier die: Wird hier der Mensch noch ernstlich als Sünder gesehen, in einer Situation, in der er nicht sich selbst, nur Gott ihm helfen kann? wird er jetzt nicht vielmehr in einer Situation gesehen, in der er sich selbst sehr wohl helfen kann? – und sei es unter Berufung auf ihm gegebene höhere Kräfte oder auf das Vorbild Jesu, das man einfach so nachahmen kann!
Im neutestamentlichen Zeugnis fallen die beiden verschiedenen Linien aber nicht auseinander. Da gehören sie zusammen. Vielleicht hatte Paul Gerhardt ein Gespür dafür, wenn er im Lied reimte: »Sein Heil und Gnaden, die nehmen nicht Schaden, heilen im Herzen die tödlichen Schmerzen, halten uns zeitlich und ewig gesund.« Denken wir an die Geschichte in Mk. 2, als vier Kameraden einen Gelähmten auf abenteuerliche Weise direkt vor Jesus abseilen! Aber das Erstaunliche ist, daß der ihm zunächst gar nicht die Heilung gibt, die diese Kameraden und er selbst erwarten mögen, sondern wie aus heiterem Himmel sagt Jesus ihm zuerst ein anderes: »Dir sind deine Sünden vergeben.«
Das ist in der Tat überraschend. Zuvor war nur deutlich, daß dieser Gelähmte ein Hilfsbedürftiger ist. Der Zuspruch Jesu deckt auf, daß dieser Mensch noch mehr ein Vergebungsbedürftiger ist. Wie um ihm zu sagen: Es gibt noch ein Vordringlicheres, als daß du gesund herumlaufen kannst – dies, daß das dich von Gott Trennende von dir genommen wird. Die umstehenden Leute haben recht, daß sie das als das Erstaunliche an der Geschichte ansehen, daß Jesus genau das dem Gelähmten zuspricht. Denn darin haben sie recht, das uns von Gott Trennende kann nur Gott allein aufheben. Jesus nimmt also in Anspruch, hier an der Stelle Gottes, als der Sohn Gottes zu handeln. Und um zu unterstreichen, daß er wahrhaftig der ist, heilt er dann auch den Gelähmten und sagt ihm: »Stehe auf!« Hier ist also beides beisammen: das Heil für den Sünder und das Heilen des Elenden. Es ist beisammen, weil in beidem derselbe handelt und weil es zu beidem nicht weniger braucht als sein Kommen. Das ist näher zu entfalten.
Zunächst: Wenn es da nicht weniger als seines Eintretens für die Menschen bedarf, so geht es dabei offenbar um die Auseinandersetzung mit einem Gegner, dem wir nicht gewachsen sind. Und zwar mit einem Gegner, der im Grunde derselbe ist in der menschlichen Sünde und im menschlichen Elend. Insofern hängt für biblisches Denken Sünde und Elend zusammen. Gewiß nicht in der oberflächlichen Meinung, daß Opfer menschlicher Gewalt an ihrem Leid selbst schuld sind oder daß Krankheit eine Strafe für mangelndes Wohlverhalten ist. Aber allerdings sagt die Bibel, dass jeder Mensch sich in einer Ferne von Gott befindet, daß er damit der von Gott verneinten Macht des Verderbens die Tür öffnet, dem Widergöttlichen und dem Unmenschlichen, und daß diese Macht dem Menschen über den Kopf wächst.
Innerhalb dessen gibt es mannigfachen Unfug, z.B.eben, dass Unschuldige Opfer böser Täter werden. Innerhalb dessen zeigt sich, dass der Mensch nicht nur nicht gut tut (das ist die Sünde im engeren Sinn), sondern daß es ihm dabei auch nicht gut geht (das ist sein Elend). Innerhalb dessen wird der Tod zu einem Ende mit Schrecken, »der Sünde Sold«, wie Paulus sagt (Röm. 6,23): die letzte und darum so schreckliche Bestätigung des Getrenntseins von Gott. Wiederum ist für die Bibel – man lese das in den Psalmen nach! – Elend, Krankheit, Leiden, Schmerz höchst real ein beängstigender Vorgriff bereits der Macht dieses Todes nach unserem Leben, um uns zu vernichten und uns definitiv von Gott zu entfernen.
Und weiter: Wenn es im Blick darauf des Kommens des Gottessohnes und seines Eintretens für die Menschen bedarf, so heißt das auch, daß er jenem Gegner, dem wir nicht gewachsen sind, seinerseits überlegen ist. So heißt das aber an erster Stelle, daß ihm die Trennung des Menschen von ihm selbst widerwärtig und nicht gleichgültig ist und darum das widerwärtig, daß der Mensch nicht guttut und daß es ihm nicht gut geht. Er gehört doch Gott. Gott selbst geht das zu Herzen. Das Gottwidrige und Unmenschliche ist nicht nur des Menschen Feind, es ist auch und zuerst Gottes Feind. Er will nicht der Menschen Verderben, er will ihr Heil und daß sie heil seien.
Darum nimmt er die Auseinandersetzung mit diesem Feind selbst auf sich. Der biblisch bezeugte Gott steht um des Menschen willen nicht abseits von der Verkehrung und vom Leid seines Geschöpfs. Er setzt sich dem selbst aus, und nun allerdings, wie das Neue Testament sagt, in siegreichem Kampf, so daß darin das Reich Gottes nahe herbeikommt, so dass darin die Versöhnung der verkehrten Welt mit Gott und die Erneuerung seiner versehrten Schöpfung anbricht. Es ist also nicht so, als wäre er in seinem Heilen weniger der Gottessohn als in seinem Sündenvergeben, als wäre er in seinem Heilen uns nur ein Bild für die Nützlichkeit eines ebenso gut auch von uns zu bewerkstelligenden Tuns.
Man bedenke, wie er hier in derselben Vollmacht handelt wie bei seinem Sündenvergeben, in der Vollmacht des Gottes, der spricht: »Ich bin der Herr dein Arzt« (Ex. 15,26), man bedenke, wie er angesichts der beelendenden Todesmacht »ergrimmt« (Joh. 11,38f.), wie er den Sturm und das verschlingen wollende Meer »bedroht « (Mk. 4,39), man bedenke, wie typisch für sein Heilen gerade die Dämonenaustreibungen sind, und man versteht, er befindet sich in seinen Heilungen im Widerstreit mit einem Gegner größten Kalibers, mit dem wir eben nicht fertig werden können, mit demselben Gegner wie in seinem Vergeben der Sünden.
Und schließlich: Es gibt dabei einen Unterschied zwischen Gottes Heil in Christus und Jesu Heilen. In Gottes Heil geht es darum, daß Menschen, in Überwindung ihrer Trennung von Gott, zu Gottes Kindern werden. In Jesu Heilen geht es darum, daß Menschen in der Überschattung ihres geschöpflichen Lebens so geholfen wird, daß sie sich in neuer Normalität ihres leiblich-seelischen Lebens freuen dürfen. Beides ist nicht dasselbe. Aber beides gehört zusammen. Denn der Gott, der die Menschen trotz ihrer Sünde liebt und sie annimmt als seine Kinder, derselbe will zugleich auch, daß sie überhaupt da sind und leben, als seine Geschöpfe.
Wir verstehen von da aus, warum Jesus gerade in seinen Heilungen sich Bedürftigen und Elenden zuwendet, ohne zumeist nach ihrer Sünde zu fragen, ohne sie ihnen vorzuhalten, und verstehen, warum er dabei darauf sieht, daß es ihnen nicht gut geht, warum er gerade da die Sonne seines Vaters aufgehen läßt über Guten und Bösen. Er macht in den Heilungen damit Ernst, dass sie, wie es auch immer mit ihrer Sünde stehe, jedenfalls Gottes Geschöpfe sind und bleiben sollen.
Darum will er, daß sie gut dran sind und nicht elend. Darum heilt er sie. Aber er heilt sie als Gottes Geschöpfe und nicht von ihrer Geschöpflichkeit. Er heilt sie in den Grenzen, nicht von den Grenzen, die nach Gottes gutem Willen zur Geschöpflichkeit gehören. Die Geheilten werden ja dann wohl auf ihrem weiteren Weg neue Not erlitten haben und werden zuletzt gestorben sein. Aber indem er sie geheilt hat, muß das alles keinen Schrecken mehr für sie bedeuten. Das ist ein auch wichtiger Gedanke, der nachher noch weiter bedacht werden muß. Aber zunächst.
2. Gottes Helfen und menschliches Heilen
Ich habe geredet von dem, was der in Christus uns zugewandte Gott an uns tut. Ich rede jetzt von dem, was wir tun können und tun sollen. Auch in Sachen seines Heils kann der Mensch nicht einfach nichts tun. Er kann sich zwar sein Heil nicht selbst beschaffen. Aber er kann und soll als das Kind Gottes, das er durch Gottes Heilstat wird, leben, kann und soll zu Gott beten, auf sein Wort hören, seinen Weg nach seinem Willen zu gehen beginnen. Er kann und soll in dem allem Gott danken, daß er unser Gott sein will und wir die Seinen sein dürfen, er der uns Zugewandte und wir die, die sich ihm zuwenden dürfen.
Doch rede ich jetzt von dem, was wir in Sachen unseres geschöpflichen Heilens und Heilwerdens und Heilseins tun können. Auch da steht durchaus nicht alles in menschlicher Macht. Aber ich weise hier zuerst auf die Frage Jesu an den vor ihm liegenden Kranken hin: »Willst du gesund werden?« Im Grunde geht diese Frage uns alle an: Willst du gesund werden oder gesund sein? Es ist offenbar ein Akt des Gehorsams gegen den guten Willen Gottes mit uns, darauf mit einem Ja zu antworten und tätig zu dieser Antwort zu stehen.
Die Frage ist jedoch nicht so leicht, was das denn eigentlich ist, was wir nicht bloß haben oder nicht haben, sondern was wir da tätig wollen sollen: Gesundheit? Sie pflegt uns fast unbewußt selbstverständlich zu sein, solange wir sie haben. Erst wenn sie uns fehlt, pflegen wir sie zu begehren. Aber was begehren wir denn da? Nur dies, daß ein Körperteil wieder funktioniert wie geschmiert? Und wie ist das mit eingebildeten Kranken, von denen es mehr gibt, als man denkt? Sind sie nur scheinbar, sind sie nicht in Wahrheit sogar richtig krank? Und gibt es nicht auch einen Gesundheitskult, der echt krankhaft ist, obwohl einem da doch nichts zu fehlen scheint? Was ist Gesundheit?
Mir leuchtet die Antwort des Theologen Karl Barth ein: Gesundheit sei Mut oder »Kraft zum Menschsein« (1). Die Antwort bedeutet, daß die Frage nach der Gesundheit dunkel bleibt, solange Gesundheit als Selbstzweck angesehen wird. Ein Mensch ist nicht dadurch Mensch, daß er gesund ist. Aber er ist dazu gesund, um Mensch zu sein. Und er ist um so gesünder, je mehr er Mut und Kraft hat, Mensch zu sein. Und er ist um so kränker, je mehr es ihm an Kraft fehlt, sein Menschsein zu bejahen und sich als Mensch zu betätigen: in seiner besonderen Eigenart und Begabtheit und in seinen ihm gesetzten Grenzen, Mensch in seiner Zeit und in den sich in ihr ihm eröffnenden Gelegenheiten, Mensch in seiner Leibhaftigkeit, in seinen Trieben, in seiner körperlichen und geistigen Fähigkeit, Mensch in seinem Verhältnis zur Mitwelt, zu seinen Mitmenschen und zuhöchst in seinem Verhältnis zu Gott, der ihm Raum und Zeit und Leben und Mitmenschen gibt.
Verstehen wir Gesundheit so, dann verstehen wir auch, was Krankheit ist: eine mehr oder weniger schwere, mühsame, schmerzliche Beeinträchtigung unserer leiblich-seelischen Verrichtungen, so daß dadurch die Kraft und der Mut, sein Menschsein zu leben, geschwächt wird. Wir verstehen dann aber auch, daß der Unterschied zwischen gesund und krank nicht so riesengroß ist. Natürlich sind Kranke auch Menschen, und zwar, was das Entscheidende ist, nicht Menschen minderen Wesens und geringerer Würde. Und sie sollen in ihrer Krankheit Menschen sein wollen und sein können.
Sie sollen deshalb die Beseitigung die Störung ihrer leiblich-seelischen Verrichtungen, soweit es möglich ist, wollen. Und sie können das wollen, weil ihnen, und wenn sie noch so schwer krank sind, die Kraft zu ihrem Menschsein nicht gänzlich fehlen muß. Das ist die Gesundheit der Kranken. Wiederum sind ja auch die Gesunden nie nur gesund. Nicht nur, dass Keime für eine Krankheit in ihnen stecken, die vielleicht schon morgen ausbrechen kann! So gesund ist doch niemand, daß auch ihm der Wille zur Gesundheit ein ernstliches Gebot ist, und so gesund niemand, daß sein Wille dazu dadurch geschwächt wird, daß es ihm oftmals an Kraft und Mut zum Leben fehlt.
Wir verstehen von der Beziehung unserer Frage auf das Menschsein ferner auch, daß es in Gesundheit und Krankheit im Grunde immer um den ganzen Menschen geht, um den Menschen nach Leib und Seele. Leib und Seele sind nicht dasselbe, aber auch keine zwei getrennten Bereiche. Der Mensch ist weder bloß Leib, und sei er noch so hübsch oder bodygebildet, noch bloß Seele, und ergieße sie sich in ein noch so erhabenes Seelenleben. Ein Seelenleben auf Kosten des Leibes ist ebenso ungesund wie die Pflege eines seelenlosen Leibes. Nur als die lebendige Seele seines Lebens kann der Mensch sein Menschsein betätigen. Und vor allem das ist hier wichtig: Wenn ein Mensch ernstlich krank ist, dann ist nicht bloß ein Körperteil kaputt, so wie wenn in einem mechanischen Apparat ein Teil nicht funktioniert, der dann nur repariert oder ersetzt werden muß.
Dann gilt auch hier der Bibelspruch: »Wenn ein Glied leidet, so leiden alle mit« (1.Kor. 12,26). Dann pflegt der Mensch an Leib und Seele krank zu sein. Dann hat er nicht nur eine Krankheit. Dann ist er krank. Dann nimmt zwar nicht sein Menschsein ab, aber seine Kraft, sein Mut, seine Zuversicht, es zu leben. Dann sollte, auch wenn in der Regel das Symptom der Krankheit an einem sogenannten Körperteil zu behandeln ist, zu seiner Genesung der Grundsatz von Paracelsus beachtet sein: »Wer die Seele tröstet, soll auch den Leib trösten« (2), und umgekehrt: Wer sich um den Leib kümmert, soll sich auch um die Seele kümmern.
Wir verstehen in diesem Zusammenhang schließlich auch dies: Ja, es geht in Gesundheit und Krankheit stets um den ganzen Menschen. Aber auch wenn jeder Mensch wohl ein besonderer Fall ist, er ist kein isoliertes Individuum, er ist Mensch in einem sozialen Beziehungsgeflecht. Die leiblich-seelischen Störungen, deren Beeinträchtigungen der Kraft, menschlich zu leben, hängen in der Regel ja auch irgendwie zusammen mit Erschwerungen in den sozialen Beziehungen.
Einerseits zeigen gerade die Heilungen Jesu, wie er es da mit Menschen zu tun hat, deren Krankheit sie einsam gemacht hat, ausgegrenzt aus ihrem bisherigen gesellschaftlichen Umfeld, abgetrennt von anderen wie durch eine Wand, die vielleicht selbst durch Besuche nicht niedergerissen, sondern dadurch vielleicht erst recht bewußt wird. »Ich habe keinen Menschen«, sagt der 38 Jahre lang Kranke am Teich Bethesda zu Jesus (Joh. 5,7), und das, obwohl er rings umgeben war von vielen Anderen. Die Heilungsgeschichten Jesu haben darum auch die Pointe, daß Menschen dabei wieder heimkehren in ihre Umgebung.
Andererseits ist es aber auch so, daß es im sozialen Umfeld krank machende Umstände geben kann. Was hilft das beste leiblich-seelische Funktionieren eines Menschen, wenn er noch gesund in einer Welt lebt oder wieder genesen in eine Welt entlassen wird, in der solche widrigen Umstände herrschen, die ihm die Kraft zum Menschsein schwächen: schwer erträgliche Arbeits- und Wohnbedingungen oder auch gar keine Arbeit und kein Obdach. Was wäre denn aus jenem unter die Räuber Gefallenen geworden, nachdem der barmherzige Samariter ihm die Wunden verbunden hatte, wenn dann nicht auch diese Herberge gewesen wäre, eine funktionierende soziale Einrichtung, in der er erst recht genesen und sich erholen konnte?
Ist Gesundheit Kraft zum Menschsein und ist Krankheit Schwächung dieser Kraft, so fragt sich: Woher haben wir diese Kraft? Soviel Kraft, dass sie uns auch dann nicht fehlt, wenn sie gestört wird! Ich habe gesagt, wir sollen diese Kraft haben wollen; das ist Gehorsam gegen Gottes Willen. Aber ich habe damit nicht genug gesagt. Denn gerade Gott gebietet hier nicht, ohne auch zu geben, was er gebietet. Menschen können gar nicht Mensch sein, ohne daß ihnen vor allen Anforderungen an sie ein großes Geschenk gemacht wird. Auch denen, die den Geber nicht erkennen!
Gott gibt uns das Menschsein, und er gibt uns die Kraft, es zu betätigen. Er gibt uns das, indem er uns liebt und indem er uns in seiner Liebe unser Dasein gönnt. Er gönnt es uns auch dann, wenn es uns von uns aus an Kraft fehlt, menschlich zu leben. Er gibt uns das in der Liebe, in der er für uns den Kampf gegen jene uns übermächtige Macht aufnimmt, die uns ins Nichts zu reißen sucht und die in der Krankheit ihre Hand nach uns ausstreckt. So gibt er uns, was wir uns im Grunde nicht selbst geben können. Hier hat das Gebet seine wichtige Bedeutung – so wie jener Blinde oder so wie jene kananäische Frau es übten, die einfach nicht abließen zu schreien: »Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner« (Mk. 10,47f.; Mt. 15,22).
Hier hat auch der auffallende Satz in Jesu Heilungen seinen Grund: »Dein Glaube hat dir geholfen« (Mt. 9,22 u.ö.), was ja heißt, daß nicht die Stärke ihrer persönlichen Frömmigkeit geholfen hat, aber der, für den ihnen die Augen geöffnet wurden. Seine Liebe ist gesund, nämlich macht uns Mut und gibt uns Kraft zum Menschsein. Und indem er das in seiner Liebe gibt, gibt er uns Kraft, unser Leben auch selbst zu bejahen, sagt uns nicht: Du mußt jetzt auch noch etwas tun und leben wollen, aber sagt: Du darfst leben und darfst Mensch sein und mußt dich nicht abfinden mit jenen entmutigenden Störungen und Schwächungen.
Indem Gott uns liebt, will er nicht nur unser Heil. Er will zugleich, dass wir leben, und zwar recht menschlich leben. Indem Gott uns liebt, will er, daß wir seinen Willen, daß wir leben und nicht ins Nichts fallen, unsererseits beantworten mit unserem eigenen Lebenswillen, mit unserer Bereitschaft, unser Leben und Menschsein gerne anzunehmen. Diese Bereitschaft, das ist unser Gehorsam gegen Gottes Gebot. In diesem Gehorsam bestätigen wir von uns aus die göttliche Liebe, dies, daß Gott selbst den Tod des Sünders nicht will, sondern daß er lebe, menschlich lebe, daß er also seinerseits auch gesund sein wollen soll.
Wir können auch in Sachen unseres Heilens, Heilwerdens und Heilseins nicht tun, was Gott tut. Aber wir können und sollen in der Freude über Gottes Liebe auch selbst unser eigenes Leben wie das anderer lieben und eben so Kraft gewinnen, es zu vollziehen. Wir können und sollen im Dank für das, was Gott da tut, sein Tun begleiten, nicht ersetzen, nicht ergänzen, aber bekräftigen, so wahr nun auch das göttliche Tun nicht das menschliche Tun in dieser Sache überflüssig macht, sondern dafür verantwortlich macht.
Es geht also nicht an, dass wir unsere Gesundheit ruinieren und dann von Gott verlangen, er solle nun wieder reparieren, was wir mutwillig zerstört haben. Es geht aber auch nicht an, daß bei uns irgendeine Gesundbeterei das ersetzt, was wir da nüchtern menschlich zu tun haben. Und es gibt da eine Menge von uns zu tun – angefangen von der eigenen Hygiene, nicht nur im leiblichen, sondern auch im seelischen Leben, mit einem angemessenen Ausgleich von Arbeit und Ruhe, von gesunder Nahrung, körperlicher Bewegung und geistiger Bildung, über vorbeugende Maßnahmen, über seelsorgerliche Bemühungen an Bekümmerten und diakonischen Einsätzen im Blick auf kränkende Sozialzustände, bis hin zu dem, was Menschen dann speziell im medizinisch-ärztlichen Bereich tun.
Zum Letzteren eine doppelte Bemerkung. Zum einen: Es gibt eine tiefsitzende Verachtung des ärztlichen Tuns, die nichts zu hat mit gesunder Vorsicht gegenüber allem, was fehlbare Menschen tun, eine Verachtung, die nicht bereit ist, das ärztliche Tun als menschlichen Assistenzdienst bei der göttlichen Bejahung unseres Lebens zu respektieren und zu akzeptieren. Es handelt sich dabei um ein Mißtrauen, das darum krankhaft ist, weil es von dem versteckten Hochmut lebt: Ich werde doch nicht auf die Hilfe anderer angewiesen sein; ich bin Manns genug, mit mir selbst fertig zu werden oder mir nichts anmerken zu lassen (es sind eben vor allem Männer, die oft so denken); oder ich habe an meinem Gott genug, was brauche ich da menschliche Hilfe (so denken zuweilen Überfromme).
Beidemal will man den Gedanken an seine eigene Schwäche nicht zulassen. Und oft genug werden solche Menschen dann damit bestraft, daß ihr ungesundes Mißtrauen umschlägt in ein blindes Vertrauen gegen noch so unseriöse Quacksalber. Für sie steht geschrieben Jes.Sir. 38: »Halte den Arzt wert, weil du ihn nötig hast; denn auch ihn hat Gott geschaffen. Und Gott bringt hervor aus der Erde Arzeneien, und ein verständiger Mensch verschmäht sie nicht.« Zum anderen: Es gibt umgekehrt auch eine verbreitete Überschätzung der Ärzte, bei der man vergißt, daß sie ja nur menschliche Assistenten bei dem göttlichen Tun sind. Sie werden dann buchstäblich für Halbgötter in Weiß angesehen oder als eine Art Priester zwischen Himmel und Erde. Und je mehr man sich fallen läßt, desto mehr erwartet man alles vom ärztlichen Können, von einer fast allmächtigen Medizin und setzt in sie ein derart grenzenloses Vertrauen, daß sie nun tatsächlich grenzenlos wird und in einen Bereich gerät, wo niemand mehr genau sagen kann, ob alles Machbare auch verantwortbar und mit der Menschenwürde vereinbar ist.
Aber das um den hohen Preis, daß der Mensch sich dabei verwandelt in eine Maschine, deren kaputte Teile beliebig austauschbar werden mit Teilen aus irgendwelchen anderen Ersatzteillagern. Und man darf sich dann nur nicht wundern, wenn man in solchem falschen Vertrauen auf die ärztliche Kunst gerade das nicht von ihr empfangen sollte, was man von ihr zuerst erwarten dürfte: Ermutigung, sondern daß es einem dann geht wie jener Frau, die Jesus begegnete und von der es heißt: »Sie hatte viel erlitten von vielen Ärzten und darüber all ihr Gut verschleudert« (Mk. 5,26).
3. Heilung und ihre Grenzen
Denken wir jetzt daran, daß die Bibel die Heilungswunder Jesu »Zeichen « nennt! In der Tat, sie sind Zeichen für die Gesunden und für die Kranken, für die Geheilten und Nichtgeheilten, für die Blindbleibenden und für die, die mit gesunden Augen oft noch viel blinder sind. Zeichen wofür? Nun dafür, daß in und durch Christus Gott, wie es an diesem und jenem Punkt aufleuchtet, nicht nur an einzelnen Punkten, sondern auf der ganzen Linie seinen Kampf führt. Es ist der Kampf gegen die Verderbensmächte, die darum tödlich sind, weil sie den Menschen aus Gottes Hand reißen möchten.
Jesus führt in der Vollmacht Gottes den Kampf auch gegen die Krankheit, weil das eigentliche Übel in ihrem Übel das ist: die in ihr wirksame Drohung, uns aus Gottes Hand zu reißen. Er führt diesen Kampf für die Menschen aus Gnade, ohne daß auch nur einer ein Anrecht darauf hätte. Und wenn er dabei doch die einen heilt, dann nicht, weil sie es aufgrund irgendwelcher Vorzüge so verdient hätten; und wenn er die anderen nicht heilt, dann nicht, weil sie das als Strafe für irgendwelche Sünde so verdient haben. Indem er die einen heilt, ist das für alle und auch für uns ein Zeichen – das Zeichen dafür, daß hier der eine am Werk ist, der diese Verderbensmacht in die Schranken zu weisen und das Gift ihres tödlichen Übels zu heilen vermag, so daß es alle und auch uns nicht mehr von der Liebe Gottes zu trennen vermag, die in Christus ist, unserem Herrn.
Es ist ja auch so, daß die von Jesus Geheilten selbst doch immer nur vorübergehend geheilt wurden. Sie werden wieder krank geworden sein, und selbst die aus dem Grab Gerufenen sind einmal wieder ins Grab gesunken. Heißt das, daß er bei ihnen nur Symptome, aber nicht die Wurzel des Übels kuriert hat? daß er ihnen also letztlich vergeblich geholfen hat, daß er also dem Zugriff der Verderbensmacht nicht gründlich gewachsen war? Auch diese Frage ist falsch gestellt und geht am biblischen Zeugnis vorbei. Die Frage muß lauten: Was hat es ihnen in ihrem neuen Erkranken und in ihrem Sterben geholfen, daß er sie einmal aus Krankheit und Tod herausgerissen hat?
Hier ist nun mit der schon genannten Erkenntnis ernst zu machen: Gott, so wie er sich in den Heilungen Jesu erweist, befreit bestimmte Menschen in ihren Grenzen, aber nicht von ihren Grenzen. Sie hören durch die göttliche Hilfe nicht auf, Geschöpfe zu sein. Und zu deren Wesen gehört es, daß sie ein zeitlich befristetes und darum auch gesundheitlich bedrohtes und schließlich sterbliches Leben haben. Das ist nicht wegen eines dunklen Schicksals so, sondern dank des guten Willens Gottes. Wir würden nicht akzeptieren, daß wir seine Geschöpfe sind, wenn wir nicht auch das, im Grunde dankbar, akzeptieren würden.
Wir können, wir dürfen das gewiß so lange nicht akzeptieren, wie die Grenzen unseres geschöpflichen Lebens überschattet sind von jener Verderbensmacht, die uns von Gott trennen will und verdientermaßen von Gott trennen kann. Aber das bedeutet nun die Hilfe und Heilung, die jenen Menschen einmal widerfahren ist, für sie und für alle, die davon je hören: Zwar sind die Grenzen unseres geschöpflichen Lebens nicht beseitigt, aber diese Grenzen sind jetzt gereinigt und befreit von ihrer widrigen Überschattung durch jene Verderbensmacht. Was diese Grenzen auch bedeuten mögen, wie hart sie uns scheinen mögen, das können sie auf alle Fälle nicht mehr bedeuten, daß sie uns aus Gottes Hand trennen können.
Wir sind an den Grenzen unseres Daseins, die uns in der Krankheit bedenklich naherücken, nicht mehr in der Hand jener Verderbensmacht. Wir sind auch an diesen Grenzen in Gottes guter Hand. Sie sind in aller Dunkelheit und Rätselhaftigkeit wie verborgene Mutterarme, in denen wir in Wahrheit in Gottes Liebe geborgen sind. »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte in kein Unglück; denn du bist bei mir« (Ps. 23,4). Darum müssen uns diese Grenzen und ihre Anzeichen in den Krankheiten nicht ängstigen. Darum können wir sie im tiefsten sogar bejahen.
Ich möchte davon nach zwei Seiten eine Anwendung machen. Zum einen: Es bleibt wohl immer noch so, daß wir gesund sein oder gesund werden wollen sollen und nicht krank werden oder krank bleiben. Wir dürfen Gott darum bitten und sollen dafür das Menschenmögliche tun und zu tun veranlassen. Aber allerdings darf ich glauben, daß ich auch dann, wenn es mir nicht so gut geht, in der Hand Gottes und nicht in der jener gottwidrigen Verderbensmacht bin. Dann habe ich mich daran zu halten, daß ich auch jetzt ungeschmälert Gottes Geschöpf bin. Dann kann ich sehr nüchtern anerkennen, daß ich jetzt eben krank bin und nicht gesund und daß für mich vielleicht noch sehr einschneidende Maßnahmen nötig werden, deren Ausgang, menschlich gesehen, ungewiß ist.
Dann muß ich mich an dem Punkt, an dem ich jetzt stehe, nicht mit illusionären Wunschträumen davonstehlen noch in fieberhafter Geschäftigkeit mein Kranksein überspielen und so tun, als wäre ich gesund. Dann ist es gewiß nicht lustig, krank zu sein. Dann mache ich eine anstrengende Zeit durch, und es mag sein, daß ich die Zeit verstehen muß als eine, in der Gott auf eine ungewohnte Weise mir mir reden will. Aber auch dann ist es derselbe Gott, in dessen guten Händen zu sein ich nicht aufhöre. Und dann muß ich nicht ungeduldig sein, weder mit meiner Umgebung, noch mit mir selbst und auch nicht mit Gott. Ungeduld ist dann nicht nur ungläubig, sondern auch schlicht ungesund.
Dann besteht die Kraft zum Menschsein jetzt darin, daß ich wenigstens ein bißchen geduldig werden und Geduld üben und es ertragen darf, nun Patient zu sein – das Wort Patient heißt im Wortsinn beides: etwas erleiden und Geduld üben. Solche Geduld ist, wie es auch mit mir stehe und gehe, heilsam. Die Bibel sagt (Spr. 16,38): »Ein Geduldiger ist besser als ein Starker«. Er ist sogar stärker als sogenannte Starke, und das darum, weil er im Unterschied zu ihnen auch seine eigene Schwachheit annehmen und zu ihr stehen, sogar dies bejahen kann, wenn es mit ihm nicht mehr aufwärts, sondern irdisch zu Ende geht.
Zum anderen: Daß es Heilung geben kann in unseren geschöpflichen Grenzen, aber nicht von ihnen, weil diese Grenzen zur von Gott gut geschaffenen Geschöpflichkeit gehören, dieser Satz ist noch in einer anderen Hinsicht auszuziehen. Die Tatsache dieser Grenzen bedeutet nicht nur, daß zu meinem Leben wie Stunden der Stärke und der Gesundheit, so auch Zeiten der Schwachheit und Krankheit und schließlich des Sterbens gehören – und eben, ich darf mich dort wie hier ganz in Gottes Hand wissen und so ein menschlicher Mensch sein und mich selbst in meiner Begrenztheit akzeptieren. Die Tatsache dieser Grenzen zeigt sich vielmehr auch in dem merkwürdigen Nebeneinander von Nichtbehinderten und Schwerbehinderten.
In den letzten Jahren hat Ulrich Bach den »Sozialrassismus in Theologie und Kirche« angeklagt (3). Er versteht darunter, daß in Köpfen von Christen und dann auch in ihren Tätigkeiten die Vorstellung lebt: Nur die Starken, die Gesunden, die Nichtbehinderten seien gute Schöpfung Gottes, während die Schwerbehinderten eine Panne, ein Unglück, etwas Mißratenes in der Schöpfung sind, ferne von Gottes Willen, nicht vollwertige Menschen, solche, die es besser nicht gäbe oder, wenn sie doch da sind und wenn man einigermaßen christlich ist, die irgendwo versorgt und irgendwie betreut werden sollten, aber auch dabei nicht anerkannt sind als Menschen von gleichem Daseinsrecht und Daseinswert wie die sogenannten Normalen, als Menschen, von denen in gleicher Weise gilt, daß Gott sie geschaffen hat und sie also haben will, wie sie sind.
Ulrich Bach hat recht, zur guten Schöpfung gehören beide, Starke und Schwache, Nichtbehinderte und Behinderte, beide lebenswert, mit vielleicht sehr verschiedenen Gaben, aber beide ein Geschenk und beide solche, die selber etwas zu schenken haben, auch die Behinderten den Nichtbehinderten. Sagt nicht Gott zu Mose: »Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen? Oder wer hat den Stummen, den Sehenden oder Blinden gemacht? Habe ich es nicht getan, der Herr?« (Ex. 4,10f.) Heilung wird in diesem Fall nicht in der Beseitigung der Behinderung bestehen, aber in der Heilung der Nichtbehinderten von ihrem Sozialrassismus. Es geht nicht darum, uns resigniert damit abzufinden, daß aller Heilkunst Grenzen gesetzt sind. Aber es geht um die heilsame Erkenntnis, daß wir in unseren uns von Gott gegebenen geschöpflichen Grenzen – Mensch sein dürfen, und dazu dürfen wir und alle getrosten Mut haben. Denn ob gesund oder krank, lebendig oder sterbend, behindert oder nichtbehindert, wir sind gleichermaßen »von guten Mächten wunderbar geborgen«.
1. K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/4, S. 406. Ich habe überhaupt den dortigen Abschnitt S. 404–426 mit Nutzen gelesen.
2. Nach H. Urner, Paracelsus als Christ, EvTh 9 (1949), S. 300.
3. U. Bach, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen-Vluyn 1991
Eberhard Busch
Der Besuch in Bethesda, zu dem uns der Evangelist Johannes eingeladen hat, ist auch ein Besuch bei uns. Da steht er vor uns, der Heiland, und macht uns gesund, und wir merken es nicht, denn immer noch warten wir auf die Lottofee. Von Michael Weinrich.