THEOLOGIE VON A BIS Z
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Calvins Vision von der Kirche
Ein ungewohnter Blick auf den Reformator.
2. Die Amtskirche
3. Die Kirchenzucht
4. Die Ökumenizität der Kirche
4.1 Die universale Einheit der Kirche
4.2 Einheit in der Vielfalt
5. Die Heiligkeit der Kirche6. Theologischer Realismus
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Als ich im soeben vergangenen Wintersemester eine Studentin nach ihrem Referat über die Einheit der Kirche fragte, woher sie denn die merkwürdigen Einsichten über Calvin bezogen habe, antwortete sie mir, dass sie den Brockhaus zu Rate gezogen habe. Als ich dann nachschaute, blieb mir nichts anderes übrig, als der Studentin zu bestätigen, dass sie die Informationen durchaus richtig aufgenommen habe. Dort ist u.a. zu lesen: Calvin wirkte:
„als evang. Prediger in Genf, wurde aber 1538 wegen übergroßer Sittenstrenge ausgewiesen ... Nach seiner Rückkehr führte er in Genf eine strenge Kirchenzucht ein, die von einem Konsistorium überwacht und von den weltlichen Behörden unterstützt wurde. Der heftige Kampf zw. Anhängern und Gegnern C.s endete erst 1555 nach zahlreichen Verbannungen und Hinrichtungen zugunsten der neuen Lehre. Aufgezeichnet in C.s Hautwerk, der ‘Christianae religionis institutio’ (1536), entwickelte sie vor allem den Gedanken der Prädestination, die jedoch nicht zur Passivität führt, sondern zur rastlosen Tätigkeit treibt: Aus dem Erfolg des Menschen könnte auf seine Erwählung geschlossen werden.“
Es folgen dann die seit Max Weber üblich gewordenen Mutmaßungen über den Zusammenhang von Calvinismus und Kapitalismus, die auch durch ihre ständige Widerholung nicht überzeugender werden[2]. – Hier muss man keine weiteren Erkundigungen über den Charakter von Calvin einholen. Wenn man dies liest, stellt sich fast automatisch das Bild einer asketischen und zwanghaft eifernden Persönlichkeit ein, die scheinbar alles daran gesetzt habe, die eigene freudlose Existenz auch all denjenigen zu verordnen, auf die er irgendwie Einfluss nehmen konnte – das ist die verbreitete Karikatur, die das Calvinbild zumindest in Deutschland bis heute prägt.
Und dies hat sich auch auf die Sichtweise übertragen, in der hier das Reformiertentum wahrgenommen wird, das dann gern mit dem Begriff „Calvinismus“ tituliert wird, was etwa auf dem Niveau liegt, wie wenn jemand die Muslime „Mohamedaner“ nennt. Die so benannten „Calvinisten“ gelten ebenfalls eher als asketisch und streng, ohne Sinn für Liturgie und überhaupt recht nüchtern, beinahe unreligiös und hoffnungslos verkopft – bilderlos und wortfixiert.
Wir wären heute Abend schlecht beraten, wenn wir versuchen wollten, diesen Verzeichnungen Schritt für Schritt entgegen zu treten. Die apologetische Rolle ist in der Regel eine problematische – nicht weil der Volksmund warnend sagt: „Wer sich selbst verteidigt, klagt sich an“, sondern weil es im Blick auf die Kirche, um die es uns gehen soll, nach gemeinsamen reformatorischen Verständnis im Grunde keine anzupreisenden Stärken gibt, die sich im Verweis auf geschichtliche Gegebenheiten so einfach aufzeigen ließen.
Da, wo die Kirche tatsächlich Selbstbewusstsein entwickeln darf, kann sie nicht auf sich selbst und ihre Fähigkeiten verweisen. Anstelle einer Verteidigung von Calvin will ich versuchen, Ihnen jetzt einige Grundgedanken von Calvins Kirchenverständnis vorzutragen, die auch grundlegend für das Selbstverständnis der reformierten Kirchen sind. Gehen wir also heute Abend in die Schule Calvins. Ich bin gewiss, dass es durchaus Interessantes zu lernen gibt.
1. Die Kirche als „äußeres Mittel und Beihilfe“
Es ist weithin unbekannt, dass Calvin keineswegs der große Imperator von Genf gewesen ist. Seine Position in Genf, wo er als Zugewanderter zeitlebens kein citoyen, d.h. mit allen Rechten ausgestatteter Bürger wurde[3], war zunächst überaus machtlos. Erst Mitte der 50-er Jahre wuchsen seine Einflussmöglichkeiten, und zwar aufgrund der reichlich zuwandernden Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, Italien, England und Schottland. Diese scharten sich eng um den durch sein berühmtes Lehrbuch zur reformatorischen Theologie bekannten Reformator. Wegen ihm waren sie nach Genf gekommen.
Einerseits wurden die Flüchtlinge in Folge der mitgebrachten oder in Genf neu entfalteten Wirtschaftskraft schnell zu einer einflussreichen Macht, mit der sie es auch verstanden, die ablehnende Haltung des Rates gegenüber Calvin soweit zu lockern, dass dieser zumindest in den die Kirche betreffenden Fragen einen eigenen Spielraum durchsetzen konnte. Andererseits erlangte Genf durch diese Flüchtlinge eine wohl einmalige Internationalität, welche diese Stadt bis heute in besonderer Weise auszeichnet.
Es hängt unmittelbar mit den konkreten Erfahrungen Calvins zusammen, wenn sein Verständnis von der Kirche eine eher strenge und eine sehr weitherzige und überaus geduldige Seite aufweist. Die Strenge Calvins liegt vor allem in der besonderen Genfer Situation begründet, in der die Reformation noch keineswegs gefestigt war, so dass sie immer wieder in der Gefahr stand, unterwandert oder gar rückgängig gemacht zu werden. Als gelernter Jurist wusste Calvin, dass es dazu klarer Orientierungen und verbindlicher Verabredungen bedurfte. Zudem galt es, der Gemeinde ein eigenes Selbstbewusstsein zu geben gegenüber den politischen Machthabern und ihren unverhohlenen Ambitionen auf das kirchliche Leben[4].
Die Weite hängt dagegen mit Calvins entschieden ökumenischer Einstellung zusammen. Er wollte keinen anderen Gemeinden seine Ansichten aufzwingen und schon gar nicht die für Genf gefundenen Lösungen zur Gestaltung des kirchlichen Lebens. Die Einheit der Kirche kommt nicht aus der Homogenität der menschlichen Praxis, sondern hängt an der Übereinstimmung im Empfangen des Wortes, was Calvin auch als das einzige und ausreichende Kennzeichen der Kirche bezeichnen konnte[5]. Die Hugenotten von Poitier empfanden Calvins Position als zu lax, und sie standen damit keineswegs allein[6].
Wenn Calvin in der Überschrift zum IV. und umfangreichsten Buch der Institutio, das sich mit der Kirche befasst, von „äußeren Mitteln oder Beihilfen“ spricht, ist von vornherein angezeigt, dass es um die relative Bedeutung der Kirche gehen soll. Die Kirche ist entschieden nicht der Grund und auch nicht der Gegenstand des Glaubens, ebenso wenig wie sie die Arena der Scheidung zwischen Spreu und Weizen ist.
Der Ton, den Calvin auch auf die sichtbare Kirche legte, stand ganz und gar im Zeichen der Fürsorge Gottes, in der dieser seine „Kinder“ versammelt[7]. Die Notwendigkeit der Kirche resultiert für Calvin aus der Grobsinnigkeit, der Trägheit und auch der Eitelkeit des Menschen, unter denen der Glaube schnell zum Erliegen käme, wenn die Kirche – als das irdische Wirkmittel Gottes – nicht seiner Schwachheit immer wieder aufhelfen würde (IV 1,1).
2. Die Amtskirche
Für Calvin war die Kirche ein Instrument der Fürsorge Gottes. Dies zeigt sich in besonderer Weise in der Einrichtung des differenzierten Amtes und in den Sakramenten, welche „höchst nutzbringende Mittel sind, um den Glauben zu erhalten und zu stärken“ (IV 1,1). Das Amt ist deshalb zentral, weil es in besonderer Weise für die gegenwärtige Wirksamkeit des erhöhten Christus steht, dessen Herrschaft Calvin in besonderer Weise mit der Kirche verbunden sah[8]. Zwar sei Christus allein der König der Kirche, die er durch sein Wort regiere, aber er bediene sich dabei als Werkzeug des Dienstes der Menschen. Es mag sich vielleicht befremdlich anhören, aber es kann im Blick auf Calvin nicht anders gesagt werden: Kirche gestaltet sich als Amtskirche[9]. Allerdings bleibt genau hinzusehen, in welcher Weise Calvin das Amt beschreibt, damit sich hier kein klerikalistisches Missverständnis einschleicht.
Das rechte Verständnis hängt an der konsequenten Wahrnehmung des Argumentationsgefälles. Es reicht nicht aus, sich zur Begründung des Amtes auf Christus zu berufen, denn das hat auch die römisch-katholische Tradition getan, wenn sie die Kirche und das Amt mit einer besonderen Macht (potestas) ausgestattet hat. Calvin lässt dagegen nicht nach, immer wieder zu unterstreichen, dass in der Kirche keine andere Macht als die des lebendigen Christus bestimmend sein kann. Die Hervorhebung der Regierungsmacht Christi hat also gerade im Blick auf das Amt eine herrschaftskritische Pointe. Jede Form der Menschenherrschaft ist ihm untersagt. Die Kirche ist allein darin Leib Christi, dass Christus ihr Haupt ist.
Seine Überlegungen über das Amt beginnt Calvin mit der Frage, warum Gott uns sein Wort durch dazu berufene Menschen ausrichten lasse. Drei recht unterschiedliche Gründe führt er an:
1. Dadurch sei das Vertrauen erwiesen, das Gott in seiner Liebe in den Menschen setze,
2. werde die Demut der Gemeinde geübt, indem diese in ihrer Frömmigkeit sich nicht auf ein offenkundiges Machtwort Gottes berufen kann, sondern sich tatsächlich auf den Glauben verlassen müsse, und
3. diene dies dem Zusammenhalt der Gemeinde, welche die Belehrung in geordneter Weise aus einer Hand empfange, so dass sich niemand dazu verführt sehen müsse, sich dadurch hervorzutun, dass er das Wort an sich reißt (IV 3,1).
Alle Machtambitionen der Amtsträger werden von dadurch konterkariert, dass Calvin weder ein hierarchisches noch ein monarchisches Amt vor Augen hat, sondern ein vierfach unterteiltes Amt, in dem sich die verschiedenen Elemente gegenseitig brauchen, begrenzen und auch kontrollieren. Es ist gleichsam ein kollegiales Amt mit einer funktionalen Differenzierung. Die Differenziertheit des vierfachen Amtes versucht der paulinischen Charismenlehre zu entsprechen, nach der den Menschen zum Nutzen aller unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten zukommen.
Aus der gemeinsamen Gliedschaft am Leibe Christi – und das ist entscheidend – lassen sich keine Über- und Unterordnungen zwischen den Gemeindegliedern einschließlich der Amtsträger ableiten. Wenn die Charismen dann doch auch Unterschiede in der Gemeinde bezeichnen, so betreffen diese nicht die Personen, sondern ihre Aufgaben. Um dem ideologischen Missbrauch des Dienstgedankens zur Verbrämung von faktischer Herrschaft keinen Raum zu geben, sollte sich die Kirche nach Calvin strikt funktional organisieren[10]. Es geht nicht um einen geistlichen Stand, sondern um die effektive Wahrnehmung der Aufgaben, die das gemeindliche Leben mit sich bringt.
Indem sich die unterschiedlichen Begabungen einander ergänzen, bedürfen sich die Menschen auch gegenseitig. Die Gemeinde setzt sich aus unterschiedlichen Individuen (Individualitäten) zusammen, aber sie verträgt keine Individualisten, die ihren eigenen Nutzen verfolgen[11]. Die Vielfalt gefährdet die Einheit nicht, sondern gibt ihr ganz im Gegenteil den besonderen Zusammenhalt (in der Gemeinschaft des gleichen Geistes). Die Einheit schließt ausdrücklich die Unterschiedenheit mit ein. Die verschiedenen Geistesgaben stehen bei Calvin vor dem Amt, das in seinen unterschiedlichen Gestalten aus ihnen abgeleitet ist und ihnen einen ordentlichen Verwirklichungsrahmen verleiht.
Nach der Kirchenordnung von 1541 bzw. 1561[12] favorisiert Calvin unter dem Einfluss von Bucer[13] das viergliedrige Amt: Pastoren, Lehrer, Älteste und Diakone. Eine eindeutige biblische Grundlage für diese Einteilung gibt es nicht, so wie sich im Neuen Testament auch keine Kirchenverfassung findet. Wichtig bleibt, dass einerseits in den Ämtern alle für das Leben der Kirche notwendigen Funktionen in den Blick kommen und andererseits die Partizipation der Gemeinde fest etabliert wird. Präzise beschrieben geht es nur um ein Amt, das im Sinne einer differenzierten Einheit in diese vier eigens wahrzunehmenden Funktionen zu unterscheiden ist.
Das Amt des Pastors, des „Hirten“, ist zentral (was ausdrücklich nicht meint vorrangig!), d.h. die anderen Ämter nehmen an diesem Amt teil, denn alle Ämter unterstehen dem Wort, dessen Verkündigung die vorzügliche Aufgabe der Pastoren ist. Als das zweite Amt sind die Lehrer, d.h. die Theologen zu nennen, die auf das alttestamentliche Amt der Propheten zurückgehen, was deutlich macht, dass der Theologie im Blick auf die kirchliche Praxis eine kritische Funktion zukommt. Sie haben die rechte Lehre zu verbreiten und über deren Berücksichtigung zu wachen.
Den Ämtern der Ältesten und Diakonen fallen die beiden in keiner Gemeinde verzichtbaren Aufgaben zu, nämlich die Gemeinde zu leiten (gubernatio) – das ist wohl gemerkt nicht die Aufgabe der Pastoren – und den Armen eine besondere Fürsorge (IV 3,8) sowie den Kranken die notwendige Pflege zukommen zu lassen (IV 3,9)[14]. Der Gemeinde kommt bei der Wahl ihrer Amtsträger, insbesondere der Pastoren und Presbyter, eine große Bedeutung zu[15]. Sie ist zudem in der Gestalt der Presbyter auch konstitutiv am Amt beteiligt.
Calvin ging grundsätzlich davon aus, dass der von dem differenzierten Amt wahrzunehmende Dienst in durchaus unterschiedlicher Gestalt organisiert werden könne – eben je nach den konkreten situativen Bedürfnissen der verschiedenen Kirchen. Auch wenn er es selbst nicht favorisierte, so konnte sich Calvin in einer anderen Situation durchaus auch das Amt des Bischofs vorstellen, dann allerdings auch nur nach Maßgabe der genannten theologischen Bestimmungen, die er für das Amt insgesamt als grundlegend erachtet hat. Die kirchenleitende Aufgabe des Bischofs wäre am ehesten mit der des Presbyters zu vergleichen, womit Calvin sich Calvin auch bereits mit Hieronymus einig wissen konnte[16].
Übrigens findet sich der (anarchistisch eingefärbte) lutherische Gedanke eines allgemeinen Priestertums aller Glaubenden nicht in vergleichbarer Gestalt bei Calvin. Deshalb müssen sich auch die Reformierten nicht mit dem Vorwurf herumschlagen, dass es noch nie funktioniert habe. Dennoch misst auch Calvin der Gemeinde die Fähigkeit zu, die rechte von der falschen Lehre am Maßstab der Heiligen Schrift zu unterscheiden. Er betont deshalb, dass nicht allein von der Leitung durch den Geist gesprochen werden solle, sondern Wort und Geist gehören zusammen, d.h. es gibt ein allgemein zugängliches Kriterium dafür, ob sich jemand zu recht oder zu unrecht auf den Geist beruft[17].
3. Die Kirchenzucht
Eine besondere Aufgabe der Kirchenleitung – also der Presbyter, d.h. der Gemeindevertretung im kirchlichen Amt und nicht der Pastoren – ist die berühmt berüchtigte Kirchenzucht. Es ist richtig, dass diese Calvin besonders wichtig gewesen ist – ähnlich wichtig, wie Luther aus vergleichbaren Gründen die Buße. Dabei lag ihm zunächst daran, dass die Kirchenzucht nicht von den an politischer Machtausübung interessierten Ratsherren ausgeübt wurde. An dieser Frage haben sich eine Reihe der Konflikte entzündet, die Calvin in Genf auszufechten hatte. Die Kirchenzucht gehört – wie schon ihre Name sagt – ganz und gar in die Hand der Kirche, weil es in ihr weder um Strafmaßnahmen noch um irgendeine Form der öffentlichen Ächtung ging, sondern vor allem um Seelsorge.
Es ist der Veröffentlichung der Protokolle des Genfer Konsistoriums[18] vor einigen Jahren zu verdanken, dass wir heute wissen, dass es bei der Kirchenzucht nur im seltenen Ausnahmefall um eine Disziplinierungsmaßnahme ging und dann auch erst, wenn alle anderen Möglichkeiten der Schlichtung oder Beratung erfolglos ausgeschöpft waren. Der amerikanische Theologe Charles Wiley spricht dann von der „außerordentlichen“ Kirchenzucht, der er die weitaus häufiger praktizierte „ordentliche“ Kirchenzucht gegenüberstellt[19], in der es um die Anregung und Unterstützung von Anstrengungen zur Befriedung von sich selbst blockierenden zwischenmenschlichen Konflikten und eine aktive Eingliederung von durch Schuld stigmatisierter Menschen ging.
Wenn sich beispielsweise zwei Nachbarn streiten oder in den Familien die Generationen gegeneinander aufgebracht sind, dann weiß man aus Erfahrung, dass die Dynamik eines Konflikts schnell dazu führen kann, dass er sich immer weiter hoch schaukelt. Man redet nicht mehr miteinander und in der Funkstille blüht eine schwarzmalende Phantasie über den jeweils anderen, dem schließlich alles erdenkliche Übel zugetraut wird. Die Streitparteien erstarren in ihrer Feindschaft, und aus dieser Erstarrung können sie sich in der Regel nicht selbst befreien, wenn nicht eine dritte neutrale Person hinzukommt und vermittelt, um schließlich auch wieder ein Gespräch zwischen den Zerstrittenen zu ermöglichen, das die Voraussetzung für eine dann ins Auge zu fassende Versöhnung ist. Und es kann eine Erlösung ebenso für die Betroffenen als auch ihre unmittelbare Umgebung sein, wenn eine solche von außen angeregte Schlichtung gelingt.
Wir kennen solche Verfahren heute aus der Rechtspflege, wo es zwei außergerichtliche Schlichtungsverfahren gibt: In zivilrechtlichen Streitereien die so genannte Mediation, in der sich die Streitparteien unter der Moderation eines besonders dafür ausgebildeten Richters um eine Einigung bemühen, und im strafrechtlichen Bereich der so genannte Täter-Opfer-Ausgleich, in dem auf der Ebene der persönlichen Begegnung von Täter und Opfer eine rechtsrelevante Konfliktregelung angestrebt wird[20]. Die Erfahrungen mit beiden Instrumenten sind überaus positiv, da sie durch die Beteiligung der Betroffenen zu aktiv erarbeiteten gemeinsamen Lösungen führen, die mehr Einsicht bewirken als ein gerichtliches Verfahren, das man mehr oder weniger passiv über sich ergehen lassen kann.
Für Calvin ging es um die Mitverantwortung der Gemeinde für ein geschwisterliches Zusammenleben ihrer Mitglieder. Die Kirchenzucht ist also in erster Linie als ein Konfliktregulierungsinstrument anzusehen, in dem sich die bis heute gültige Erfahrung niedergeschlagen hat, dass sich viele Konflikte eben nicht einfach von selbst klären, sondern sich im Gegenteil selbst erhalten, wenn die Konfliktpartner mit ihrem Konflikt allein gelassen werden.
Im Blick auf die eigene Lebensordnung in der Gemeinde versucht die Presbyterian Church USA an diese Ausrichtung und Intention anzuschließen, wenn es dort eine neue Debatte um „Church discipline“ gibt[21]. Auch hier geht es im Grunde um ganz weltliche Probleme der Konfliktregelung[22], die aber immer auch eine theologische Dimension haben. Der Umgang mit Schuld soll nicht durch Verurteilen und Ausgrenzen, sondern durch aktive Versöhnungsarbeit geprägt sein. Da sich Versöhnung wegen des aufgestauten Hasses in der Regel nicht von selbst ereignet – oder eben nur in den seltensten Fällen –, bedarf es eines eigenen Instrumentariums, um überhaupt die befreiende Schuldeinsicht zu ermöglichen und dann auch eine neue Perspektive für die Zukunft zu eröffnen. Hier hat die Kirchenzucht – es bleibt im Deutschen ein unschönes Wort – ihren eigentlichen Sitz im Leben.
4. Die Ökumenizität der Kirche
Im Blick auf die sichtbare (!) Kirche unterscheidet Calvin zwei Perspektiven. Die eine nimmt die fundamentale Bedeutung der Einheit der Kirche in den Blick und ist somit auf die Universalität der Kirche in ihrer Verstreuung über die ganze Welt gerichtet (4.1). Der andere Fokus gilt der konkret verfassten Lokalkirche in Stadt und Land (4.2). Die erste Perspektive blickt vor allem auf das, woran Gott selbst die Kirche öffentlich erkennbar machen will. In der zweiten werden dann die historischen Konkretionen und ihre Bedingungsfaktoren im Blick auf Universalität der Kirche bedacht.
4.1 Die universale Einheit der Kirche
Blicken wir auf die weltweit verstreute Kirche, so gilt es – wie Calvin sagt – ein „Urteil der Liebe“ (iudicum caritatis) zu fällen: „danach sollen wir die Menschen als Glieder der Kirche erkennen, die durch das Bekenntnis des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und durch die Teilnahme an den Sakramenten mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen.“ (IV 1,8) Jede weiter reichende Skepsis hinsichtlich der Redlichkeit des Glaubens – ob da jemand tatsächlich glaubt oder womöglich nur ein Heuchler ist – hat zu unterbleiben, denn das Urteil darüber kommt allein Gott zu. Das Entscheidende ist für Calvin das „Bekenntnis der Frömmigkeit“, denn dieses eröffnet die Möglichkeit der Zurechnung zur Kirche (IV 1,9).
Das Bekenntnis als kurze und einfache Zusammenfassung des christlichen Glaubens (gemeint ist das apostolische Glaubensbekenntnis) steht in unüberbietbarer Weise für die rechte Katholizität und Einheit der Kirche, so dass auch vereinzelte Christen der Kirche zugerechnet werden können. Hier wird deutlich, dass auch Calvin – ebenso wie Luther – stets damit gerechnet hat, dass es auch in der römisch-katholischen Papstkirche, die als solche zwar nicht als Kirche anzusehen sei, dennoch rechte Christen geben könne, die der universalen Kirche zugerechnet werden müssen (vgl. IV 2,11f)[23]. In Übereinstimmung mit CA VII[24] werden auch von Calvin in der Regel nur Wort und Sakrament als Kennzeichen der Kirche angesehen (vgl. IV 1,11 u. 12)[25]. Diese eher uncalvinische Beschränkung unterstreicht das große Gewicht, das Calvin auf die Einheit der universalen Kirche legte[26].
Das gilt dann auch im Blick auf die theologische Lehre. Hier wird Calvin als entschiedener Ökumeniker erkennbar, indem er bereits in einem sehr weitreichenden Sinne die Einheitserwartungen von zu hohen Anforderungen im Lehrkonsens entlastete:
„Denn nicht alle Stücke der wahren Lehre sind von gleicher Gestalt. Einige unter ihnen sind derart notwendig zu wissen, daß sie bei allen unerschütterlich und unzweifelhaft fest stehen müssen, gleichsam als die eigentlichen Lehrstücke der Religion. Dazu gehören zum Beispiel folgende Aussagen: Es ist ein Gott, Christus ist Gott und Gottes Sohn, unser Heil besteht in Gottes Barmherzigkeit, und andere Aussagen gleicher Art. Dann gibt es andere Lehrstücke, über die unter den Kirchen Meinungsverschiedenheiten herrschen, die aber die Einheit im Glauben nicht zerreißen.“ (IV 1,12)
Es ist nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass Calvin niemals eine geschlossene Aufzählung der „eigentlichen Lehrstücke“ vorgetragen hat. Eine solche Festlegung stände in der Versuchung, den Glauben auf die Lehre, statt auf Christus zu fixieren[27]. Lehrverschiedenheiten in weniger zentralen Fragen dürfen unter Christen kein Grund zur Entzweiung sein.
4.2 Einheit in der Vielfalt
Es machte Calvin auf der anderen Seite keine Mühe, sich innerhalb der einen universalen Kirche durchaus eine große Anzahl verschiedener Einzelkirchen vorzustellen, „die jeweils stadtweise oder dorfweise nach der unter Menschen notwendigen Ordnung verteilt sind, daß jede einzelne den Namen und die Geltung einer Kirche rechtmäßigerweise trägt“ (IV 1,9[28]). Diese Formulierung zielt auf die konkreten Erfordernisse, die sich aus den jeweils unterschiedlichen Situationen ergeben und denen auch Rechnung zu tragen ist. Es geht genau um das Ernstnehmen der Fragen, die wir heute mit dem Stichwort der Kontextualität benennen. Das Eingehen auf die besonderen regionalen Erfordernisse mag eine eigene Organisationseinheit als eine eigene Kirche sinnvoll erscheinen lassen, aber dies rechtfertigt in keiner Weise die Aufkündigung der Einheit mit der einen universalen Kirche, die hier für die in aller Kontextualität zu wahrende Katholizität der Kirche steht.
Die kirchlichen Gebräuche und die gottesdienstlichen Formen stehen nicht unter dem Druck einer Vereinheitlichung. Ihre Gestaltung fällt in die Freiheit der Gemeinden[29]. Zu viel Vereinheitlichung birgt die Gefahr einer Überbewertung der Form in sich, die hin bis zu ihrer Vergötzung reichen kann. In diesem Sinne ist Vielfalt durchaus erwünscht. Calvin hat sich niemals auf eine bestimmte Ordnung etwa des Amtes oder der Gottesdienstgestaltung festgelegt[30]. Deutlich stellt er fest:
„Es wäre unerhört, wenn wir in den Dingen, in denen uns der Herr Freiheit gelassen hat, damit wir umso mehr Möglichkeit hätten, die Kirche zu erbauen, eine sklavische Gleichförmigkeit erstreben wollten, ohne uns um den wahren Aufbau der Kirche zu kümmern. Denn wenn wir einmal vor den Richterstuhl Gottes treten werden, um Rechenschaft abzulegen von unseren Taten, werden wir nicht nach den Zeremonien gefragt werden. Überhaupt wird eine solche Gleichförmigkeit in den äußeren Dingen keine Beachtung finden, wohl aber der rechte Gebrauch der Freiheit. Als rechter Gebrauch wird aber der gelten, der am meisten zur Auferbauung der Kirche beigetragen hat.“[31]
Die Bindung an Christus eröffnet in diesen Fragen eine große Freiheit. Der kritische Punkt ist an einer anderen Stelle zu suchen: Die Grenzen einer lokalen Kirche dürfen nicht mit den Grenzen der einen Kirche Jesu Christi verwechselt werden. Keine Partikularkirche ist berechtigt, ihre Begrenztheit zu theologisieren und daraus ein besonderes Selbstbewusstsein abzuleiten, durch das sie anderen Gemeinden oder Partikularkirchen gegenüber herausgehoben sei. Vielmehr hat sie sich als ein Teil des einen Leibes Christi zu verstehen. Wo das nicht geschieht, wird die Kirche unvermeidlich sektiererisch. D.h. klipp und klar, dass Kirchen, die keine ökumenischen Aktivitäten entwickeln oder diese gar strikt ablehnen, ein wesentliches Element ihres Kircheseins fehlt[32].
Die Bewahrung und Förderung der Einheit hat sich Calvin zu einer eigenen Aufgabe gemacht, die weit über die mühsam gelungene Einigung mit Zürich im Consensus Tigurinus (1549)[33] hinausgeht. Calvin hat sich stets um einen Zusammenschluss aller reformatorischen Kirchen bemüht, und es bestanden gegenseitig weithin gut präparierte Aussichten auf eine Einigung mit den lutherischen Kirchen. Aber es war ausgerechnet die vollzogene Einigung mit Zürich, die dann aufgrund der Zögerlichkeit von Melanchthon und einer weniger sachlichen als vielmehr emotionalen, aber dann wohl ausschlaggebenden Reaktion von dem Hamburger Theologen Joachim Westphal[34] alle Erfolgsaussichten im Blick auf die lutherischen Kirchen auf weite Sicht vereitelte[35] und damit eine Geschichte eines allzumeist überaus kleinlichen Konfessionalismus eröffnete.
5. Die Heiligkeit der Kirche
Calvins Nachsichtigkeit beschränkte sich keineswegs nur auf den Blick nach außen. Sie galt auch im Umgang mit den Unvollkommenheiten der Geschwister in der eigenen Gemeinde. So wichtig Calvin auch der Lebenswandel der einzelnen Christen war, so sehr hebt er auf der anderen Seite hervor, dass die Kirche „über und über mit vielen Gebrechen bedeckt“ sein mag (IV 1,12)[36]. Diese dürfen die Einheit der Kirche nicht gefährden, solange die beiden von Gott gegebenen Kennzeichen gegeben sind. Nach seiner Vertreibung aus Genf 1538 wollten dort einige seiner Freunde nicht mehr am Abendmahl teilnehmen, das von den Gegnern Calvins geleitet wurde; doch Calvin forderte sie um der Einheit der Kirche willen nachdrücklich auf, diese eigenwillige Demonstration zu unterlassen[37].
In seiner Institutio spricht er von einem „falschen Wahn einer vollkommenen Heiligkeit“ (IV 1,13). In dem Ideal verwirklichter bzw. zu verwirklichender Heiligkeit lauert stets die Zwietracht, so dass Calvin in ihm eine besondere List des Satans erkennt. Ähnlich wie Augustin verweist Calvin darauf, dass nach Mt 13 weder alle Fische, die vom Netz der Kirche gehalten und eingebracht werden, gute Fische seien, so wie eben auch nicht alles Unkraut aus dem Acker ausgejätet werden könne (IV 1,13). Der proklamierte Lebenspurismus ist vor allem darin anstößig, dass er die Gemeinschaft konditioniert und somit limitiert. Da führen Vorbehalte zu zwischenmenschlichen Grenzziehungen, die nicht der den Glauben begründenden Barmherzigkeit entsprechen. Gerade um ihrer Schwächen willen sind die anstößigen Menschen u.U. in ganz besonderer Weise der Gemeinschaft bedürftig (IV 1,16).
Die Heiligkeit der Kirche steht nicht im Zeichen der Makellosigkeit, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf das erkennbare Bemühen, dem Gott eben die Heiligung nicht verweigere. Die im Epheserbrief erwähnte Braut ohne Flecken und Runzeln (Eph 5,26f) kann allein in Christus gefunden werden, der die Kirche täglich erneut reinigt und heiligt (IV 8,12). Es waren immer unvollkommene Menschen, denen Gott seine Barmherzigkeit erwiesen hat. Es bleibt mit einer Heiligkeit der Kirche zu rechnen, die nicht einfach an der jeweiligen Erscheinungsform abgelesen werden kann[38].
Die Verheißung der Heiligkeit gilt nicht irgendeiner unverwirklichten Idealkirche, sondern der geschichtlichen Realkirche. So wie sie von Gott der Kirche verheißen ist, kommt sie auch allein von Gott. Sie ist ein Bestandteil eben der Gnade, welche die Kirche als solche begründet. Es geht um eine nicht besitzbare und nicht fixierbare Heiligkeit, die John Webster eine sanctitas aliena – eine fremde, d.h. von außen kommende Heiligkeit nennt[39]. Sie lässt sich als solche nicht aufzeigen, sondern wird mit der Kirche im Glaubensbekenntnis bekannt.
6. Theologischer Realismus
Es ist kein Mangel der Kirche, wenn diese niemals eine perfekte menschliche Gestalt hat, vielmehr entspricht diese Menschlichkeit dem Willen Gottes. Sie ist sowohl eine der Kirche gesetzte Grenze als auch eine ihr anvertraute Verpflichtung. Die Grenze soll die Kirche mit beiden Beinen auf den Boden dieser Welt stellen. Calvin bleibt in seiner Theologie stets ein Realist. Und so ist die Kirche – modern gesprochen – keine religiöse Rettungsinsel, auf die man sich aus der Welt zurückziehen kann, so wie sie auch keine erhobene oder erhebende Plattform ist, von der aus der Mensch einen privilegierten Blick ins Jenseits – oder von oben herab auf das Diesseits – werfen kann. Und schließlich ist sie auch keine unmittelbare Institution für Gottesbegegnungen, dessen Personal nun über besondere Vermittlungsfähigkeiten verfügt oder zur Verwaltung irgendwelcher ihnen von Gott anvertrauter Heilsschätze beauftragt ist. Der theologische Sinn der Menschlichkeit liegt vielmehr in der Fokussierung der Kirche auf den Glauben und die von ihm orientierte Freiheit.
Alles, was dem Glauben dient, hat einen hohen Stellenwert in der Kirche, und alles, was ihn ablenkt oder beeinträchtigt, d.h. vor allem: alles, was ihn überflüssig zu machen scheint oder gar macht, gilt es kritisch zu beurteilen. Dabei ist der Glaube zumindest in dem gleichen Maße, wie er die Verbundenheit zu Gott vergegenwärtigt, die eher schmerzliche Erinnerung daran, dass wir von Gott noch prinzipiell geschieden sind. Inszenierungen, die dieses Faktum vergessen machen könnten, dienen nicht dem Glauben, sondern lenken das Vertrauen auf trügerische Verlässlichkeiten. Es ist deutlich, wie sehr die mit der Menschlichkeit der Kirche gegebene Verpflichtung mit der in ihr liegenden Grenze zusammenhängt.
Die Sichtbarkeit, um die es hier geht, gründet sich auf das Vertrauen auf die Verheißungen Gottes für die Kirche, d.h. auf die Verheißungen, die auf den in der Kirche agierenden Menschen liegen. Der von der Kirche zu vollziehende Gottes-Dienst konkretisiert sich in den vier Funktionsbereichen, wie sie im vierfachen Amt vor Augen gestellt werden. Hier zeigt sich der essentielle Aktionsradius des Kircheseins, der einer möglichst gedeihlichen und praktikablen Gestaltung bedarf. Wo eine dieser Dimensionen fehlt oder unangemessen wahrgenommen wird, nimmt die ganze Kirche Schaden.
Der mit Calvins Perspektive zusammenhängende besondere Realismus tritt in dem nüchternen und als solchem entschiedenen Gebrauch des Wortes „Kirche“ im Plural auf. Die Universalität der einen Kirche gestaltet sich geschichtlich immer nur lokal, d.h. sie erscheint in einer Vielzahl von nach unterschiedlichen Erfordernissen gestalteten Kirchen, die ihre Universalität darin wahren, dass sie sich alle zu der „einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche“ bekennen, die sich als solche einer irdisch-geschichtlichen Gestaltung entzieht, aber in allen irdisch-geschichtlichen Gestaltungen im Blick bleiben muss[40].
Damit ruft uns Calvin in Erinnerung, dass unser Verhältnis zur Kirche nicht einer abstrakten Größe gilt, sondern nur im Anschluss an den Alltag einer konkreten Kirche praktiziert werden kann. Das schließt ja nicht aus, dass man sich gerade über seine eigene Kirche gelegentlich auch ärgert. Das ist auch kein Wunder, denn die eigenen Begrenztheiten sind natürlich auch in der Kirche zu finden. Kommen dann diese eigenen Begrenztheiten in den Blick, werden wir hoffentlich auch die tröstlichen Dimensionen wieder entdecken, die uns an unserem jeweiligen Ort an die immer nur geschichtlich konkrete Kirche binden, von der wir alle glauben, dass sie unter den ihr gegebenen Verheißungen als Botschafterin des Evangeliums doch immer wieder wenigstens eine „kleine Prophetin“ (Gerit Noltensmeier) sein darf.
[1] Geringfügig überarbeiteter Vortrag anlässlich des 300 jährigen Jubiläums der Friedrichstadtkirche zu Berlin am 2. März 2005 im George Casalis Saal. In manchen Passagen stimmt der Text mit dem Calvinteil der umfänglicheren Studie überein: M. Weinrich, Welche Kirche meinen wir? Die Theologie und die verfasste Kirche, in: Bloß ein Amt und keine Meinung? – Kirche, hg. v. J. Ebach u.a. (Jabboq 4), Gütersloh 2003, 214-272. Anm. d. Redaktion: Die vorliegende Fassung ist mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlagsleiters entnommen aus: Die kleine Prophetin Kirche leiten. Gerrit Noltensmeier gewidmet, hrsg. von Böttcher, Martin, Wuppertal, Foedus-Verlag 2005, S. 225-239.
[2] Vgl. dazu D. Schellong, Der „Geist“ des Kapitalismus und der Protestantismus. Eine Max-Weber-Kritik, in: R. Faber/G. Palmer (Hg.), Der Protestantismus. Ideologie, Konfession oder Kultur?, Würzburg 2003, 231-253.
[3] Das Genfer Ratsprotokoll nennt ihn anfangs ohne Namen einfach „ille Gallus“ (vgl. O. Weber, Johannes Calvin, Gestalter der Kirche, in: Gesammelte Aufsätze II (BGLRK 29), Neukirchen 1968, 1-18, 7). Die Einwohner Genfs waren in drei Kategorien unterschieden: 1. die citoyens, die Altbürger, 2. die bourgeois, die privilegierten Neubürger und 3. die habitants, die übrigen Bürger, „die nicht wählen, keine Waffen tragen und kein öffentliches Amt bekleiden durften“, mit der Ausnahme des Pfarramtes oder des Lektors. Calvin war ein solcher habitant und wurde erst 1559 zum bourgeois; vgl. A.E. McGrath, Johann Calvin. Eine Biographie, Zürich 1991, 144. Gegen den immer noch nicht ganz ausgeräumten Ruf, der ›Diktator von Genf‹ gewesen zu sein, stellt McGrath fest: „Calvin konnte drängen, gut zureden und flehentlich bitten, was er auch tat; aber er konnte nicht befehlen“ (ebd., 146).
[4] Calvin kämpfte vor allem darum, dass nicht – wie es gegen die erklärte Position Calvins in Genf üblich war – der Rat den Ausschluss einer Person vom Abendmahl wirksam werden lässt, sondern dass dies zu den genuinen Aufgaben der vom Staat deutlich zu unterscheidenden Kirche gehört; vgl. dazu A.E. McGrath (s. Anm. 3), 160ff.
[5] Vgl. J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion (Institutio christianae religionis), übers. v. O. Weber, Neukirchen-Vluyn 41986, IV 2,4 (die Belege aus der Institutio [Ausgabe 1559] finden sich im Folgenden im Text). Vgl. auch J. Calvin, Streitschrift gegen die Artikel der Sorbonne (1544), in: Calvin Studienausgabe, hg. v. E. Busch u.a., Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 1999, 1-105, 73-75.
[6] Vgl. O. Weber (s. Anm. 3), 13f.
[7] Das ist die Metaphorik, in deren Horizont Calvin das von der Alten Kirche gern gebrauchte Bild von der Kirche als der Mutter der Glaubenden aufnimmt (vgl. bes. Inst. IV 1,4) und die Wendung von Cyprian (De unitate eccl. 6) aufnimmt: „Wer also Gott zum Vater hat, der muß auch die Kirche zur Mutter haben“ (Inst. IV 1,1); vgl. auch F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 1968, 260.
[8] Vgl. dazu ausführlicher W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, Berlin 1957, 333ff.
[9] Vgl. O. Weber, Calvins Lehre von der Kirche, in: Ders., Die Treue Gottes in der Geschichte der Kirche, Gesammelte Aufsätze II (BGLRK 29), Neukirchen 1968, 19-104, 31. Dagegen konzentriert sich die existentialistisch geprägte Interpretation von P. Barth ganz und gar auf die eschatologisch ausgerichtete Gemeinde als communi sanctorum, ohne dass das Amt auch nur erwähnt würde; damit wird zumindest eine fundamentale Dimension von Calvins Kirchenverständnis ausgeblendet (Calvins Verständnis der Kirche, in: ZZ 8 (1930), 216-233).
[10] Dieser Aspekt wird besonders hervorgehoben von J.R. Weerda. Die Gemeinde kann insgesamt über das Amt, an dem sie partizipiert, als eine ›Funktionsgemeinschaft‹ aufgefasst werden; vgl. Ordnung zur Lehre. Zur Theologie der Kirchenordnung bei Calvin, in: Ders., Nach Gottes Wort reformierte Kirche, hg. v. A. Sprengler-Ruppenthal (TB 23), München 1964, 132-161, 151.
[11] Vgl. W. Krusche (s. Anm. 8), 320.
[12] In: Calvin Studienausgabe, hg. v. E. Busch u.a., Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 1997, 227-279.
[13] Von der wahren Seelsorge (1538).
[14] Zur Diakonie vgl. J.R. Weerda, Kirche und Diakonie in der Theologie Calvins, in: Ders., Nach Gottes Wort reformierte Kirche (s. Anm. 10).
[15] Es ist allerdings eher zweifelhaft, dass im Sinne Calvins die Gemeinde grundsätzlich für die Wahlen aller Amtsträger zuständig sein sollte, zumindest wird festzustellen sein, dass dies in Genf längst nicht in allen Fällen praktiziert wurde. Sicher ist lediglich, dass sie ggf. die Bischöfe – die Presbyter – zu wählen hat, während sie in anderen Fällen u.U. nur zu hören ist, d.h. sie darf von der Berufung eines Amtsträgers nicht ausgeschlossen werden; vgl. dazu O. Weber (s. Anm. 9), 38f; F. Wendel (s. Anm. 7), 268.
[16] Vgl. dazu Inst. IV 3,8; Calvin beruft sich dabei auf Apg 20,17.
[17] Vgl. Antwort an Kardinal Sardolet, in: Calvin Studienausgabe, hg. v. E. Busch u.a., Bd. 1/2, Neukirchen-Vluyn 1994, 337-429, hier: 362-365.
[18] Registers of the Consistory of
[19]
[20] Zu letzterem vgl. S. Riediger, „Ich bin unschuldig!“ Erfahrungen einer Konfliktschlichterin mit dem „Täter-Opfer-Ausgleich“ – ein kommentiertes Fallbeispiel, in: „Wie? Auch wir vergeben unsern Schuldigern?“ Mit Schuld leben, hg. v. J. Ebach u.a. (Jabboq 5), Gütersloh 2004, 74-87.
[21] Es geht um ein offensives Verständnis der Ausführungen, die im „Book of Order“ (Lebensordnung) in der Presbyterianischen Kirche unter dem Stichwort Kirchenzucht zu finden sind; vgl. Book of Order 2003/2004. The Constitution of the Presbyterian Church (
[22]
[23] Der Hinweis auf die erhalten gebliebene Taufe veranlasst Calvin, zumindest nicht zu bestreiten (non negamus), dass es in der Papstkirche auch über den einzelnen Christen hinaus noch Kirchen geben mag; vgl. seine Antwort an Kardinal Sardolet (s. Anm. 17), 394-397.
[24] Die christliche Kirche „ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden“ (BSLK, 61). Calvin hatte 1539 die CA in der ursprünglichen Fassung unterschrieben und sich fortan an den öffentlich erklärten Konsens gehalten.
[25] So bereits im Widmungsschreiben der ersten Ausgabe der Institutio (1536) an König Franz I, in: Calvin Studienausgabe, hg. v. E. Busch u.a., Bd. 1/1, Neukirchen-Vluyn 1994, 66-107, 92.
[26] Kaum etwas vermag mehr Calvins Sehnsucht nach Zusammenschluss der reformatorischen Kirchen zu unterstreichen als die hier erkennbare Selbstzurücknahme, mit der sich Calvin ganz und gar auf die Position Luthers zubewegt, wie sie auch in dem häufig zitierten Satz Luthers zusammenfasst ist: „Wo du siehst, dass die Taufe, das Brot und das Evangelium sei, da ist – ganz abgesehen vom Ort und von den Menschen – ohne Zweifel die Kirche.“ (WA 7, 720,36-38).
[27] Vgl. O. Weber (s. Anm. 9), 63; ders., Die Einheit der Kirche bei Calvin (in: Gesammelte Aufsätze II, s. Anm. 8), 105-118, 116.
[28] Übersetzung nach: Der Glaube der Reformatoren. Klassiker des Protestantismus, Bremen 41986, 472.
[29] Vgl. CR 14, 285; 15, 538.
[30] Vgl. W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes (s. Anm. 8), 306.
[31] OS 1, 432 (zit. n. W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938, 198).
[32] In diesem Sinne formuliert der Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen durchaus moderat in seiner genannten Toronto-Erklärung (1950): „Die Mitgliedskirchen erkennen an, daß die Mitgliedschaft in der Kirche Christi umfassender ist als die Mitgliedschaft in ihrer eigenen Kirche. Sie sind deshalb darauf bedacht, mit denen außerhalb ihrer eigenen Reihen, die Jesus Christus als Herrn anerkennen, in lebendigen Kontakt zu kommen.“ (Die Kirche, die Kirchen und der Ökumenische Rat der Kirchen, in: Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung, hg. v. L. Vischer (TB 30), München 1965, 251-261, 257.) Vgl. dazu auch M. Weinrich, Die Einheit der Kirche aus reformatorischer Perspektive. Ein Beitrag zum protestantischen Ökumeneverständnis, in: EvTh 65 (2005), 196-210.
[33] In: Calvin Studienausgabe, hg. v. E. Busch u.a., Bd. 4, Neukirchen-Vluyn 2002, 1-27.
[34] Es kann gewiss auf Westphal bezogen werden, wenn G.W. Locher das Scheitern des Brückenschlags zu den Lutheranern auf die Lutheraner zurückführt, „die wohl des Meisters Grobheit, nicht aber seine Glaubenstiefe geerbt hatten“ (Calvin. Anwalt der Ökumene (ThSt(B) 60), Zollikon 1960, 21); vgl. dazu Calvins werbenden Brief an die sächsischen und niederdeutschen Pfarrer vom 5. Januar 1556, in dem Calvin inhaltlich die große Übereinstimmung benennt. In: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung v. R. Schwarz, Bd. 2, Tübingen 1909, 129. K. Holl bemerkt dazu: „Jederzeit sind die Reformierten im Vergleich mit den Lutheranern die Entgegenkommenderen gewesen.“ (Johannes Calvin [1909], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte III, Tübingen 1928, 254-284, 275).
[35] Faktisch haben die dann folgenden Großereignisse wie der Augsburger Religionsfriede (1555), das Trienter Konzil (bis 1563) und die lutherische Konkordie mehr für die Spaltung der Kirche als zu deren Einigung geleistet.
[36] Calvin unterscheidet sich von anderen Reformierten gerade darin, dass er die Zucht nicht zu den Zeichen der Kirche zählt. Sie fehlt auch in der Confession de Foy (1559), an der Calvin mitgewirkt hat, während sie in der Confessio Scotia Art. 18 (1560) und der Confessio Belgica Art. 29 (1561) genannt wird. Er hätte die Substanz seiner ökumenischen Intention in Frage stellen, wenn er als Unterzeichner der CA ein weiteres Kennzeichen für die Kirche als notwendig erklärt hätte.
[37] Vgl. CR 10b, 309; vgl. B. Cottret, Calvin. Eine Biographie, Stuttgart 1998, 183.
[38] Vgl. auch P. Wernle, Der evangelische Glaube nach de Hauptschriften der Reformatoren, Bd. III: Calvin, Tübingen 1919, 59f.
[39] J. Webster, Holiness, London 2003, 58.
[40] Vgl. dazu M. Weinrich, Kirche bekennen, in: ders. (Hg.), Einheit bekennen. Auf der Suche nach ökumenischer Verbindlichkeit, Wuppertal 2002, 37-47.
Quelle:
Michael Weinrich, Calvins Vision von Kirche. Ein ungewohnter Blick auf den Reformator, in: Die kleine Prophetin Kirche leiten. Gerrit Noltensmeier gewidmet, hrsg. von Böttcher, Martin, Wuppertal, Foedus-Verlag 2005, S. 225-239.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors Michael Weinrich und des Verlagsleiters Jörg Schmidt online veröffentlicht auf www.reformiert-info/calvin.php
Michael Weinrich
Veranstalter: Evangelisch-reformierte Gemeinde St. Johannis Vlotho in Verbindung mit dem ''Forum Kirche'', Altstadtgemeinde Bad Oeynhausen