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Melanchthon und die Reformierte Tradition
Ein Bericht zur Tagung vom 10. bis 12. November 2010 in der Johannes a Lasco Bibliothek, Emden
Melanchthon
und die reformierte Tradition
Internationale wissenschaftliche Tagung
der Johannes a Lasco Bibliothek Emden
im Rahmen des Projektes Refo500
in Kooperation mit der
Ev.- theol. Fakultät Leuven und der
Europäischen Melanchthonakademie Bretten,
Emden,10.-12. November 2010
Die Beiträge der internationalen wissenschaftlichen Tagung, die von der Johannes a Lasco Bibliothek Emden in Kooperation mit der Evangelisch-Theologischen Fakultät Leuven und der Europäischen Melanchthonakademie Bretten organisiert wurde, dokumentieren den bisher kaum erforschten, großen Einfluss Melanchthons auf die reformierte Tradition. Dabei ergänzen sie die 2005 im Band „Melanchthon und der Calvinismus“ (MSB 9) zu einer früheren Tagung in Bretten vorgelegten Resultate und führen diese entscheidend weiter.
In seinem Vortrag „The external voice of the Word and the internal work of the Spirit in Melanchthon´s Loci Communes” untersuchte Henk van den Belt, Utrecht, die Entwicklung von Melanchthon´s Sicht des Verhältnisse von Wort und Geist in den einzelnen Ausgaben seiner Loci Communes. In der ersten Edition werde noch das Wirken des Geistes betont, den die Menschen durch die Sünde verloren und durch die Rechtfertigung Christi wieder gefunden hätten. Durch Gesetz und Evangelium sei der Geist wirksam bei der Reue und der Wiedergeburt des Gläubigen. Der Geist sei sowohl im Wort als auch im Gläubigen präsent. Durch das Wort fließe er in das Herz des Gläubigen. Der Geist sei zugleich der Lehrer, der die Geheimnisse der Schrift offenbare. In späteren Ausgaben liege der Nachdruck mehr und mehr auf das äußerliche Wort. Beleuchtet hat van den Belt auch die Diskussion über den Gebrauch des Wortpaares „internus–externus” in den Loci. Es scheine, dass „internus“ nicht in Hinblick auf die Wirkung des Heiligen Geistes verwendet worden wäre, und dass „externus“ sich von einer negativen Umschreibung von Äußerlichkeiten sich zu einem neutralen Wort hin entwickelt habe. In einigen Fällen werde es angewandt bei Wort und Sakrament.
Machiel van den Berg, Utrecht beschäftigte sich in seinem Vortrag „The Apocalyptic Melanchthon“ mit der Frage, ob Melanchthon als ein „apokalyptischer“ Theologe zu bezeichnen sei. Er kommt zu dem Schluss, dass Melanchthon in seiner historisch-prophetischen Interpretation der Prophezeiungen Daniels eher als ein moderater apokalyptischer Theologe in Erscheinung getreten sei. Melanchthon sei sicherlich sehr viel weniger apokalyptisch gewesen als viele andere Lutheraner Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts, wenngleich auch wesentlich apokalyptischer als Calvin, der an seiner Ansicht festhielt, dass die Bedeutung und der Trost der von ihm gerade nicht apokalyptisch verstandenen Botschaft Daniels für die Kirche nicht nur in diesem Zeitalter gelte, sondern zu allen Zeiten, bis Christus wiederkehre.
Professor Dr. Martin H. Jung, Universität Osnabrück, hielt einen öffentlichen Abendvortrag mit dem Titel „Melanchthon und die reformierte Frömmigkeit“. Melanchthon habe durch seine Schriften, die in ganz Europa gelesen worden seien, und durch seine Schüler, die später teilweise in reformierten Kirchen gewirkt hätten, auf die reformierte Frömmigkeit gewirkt. In ganz besonderer Weise sei eine indirekte Wirkung Melanchthons auf die reformierte Frömmigkeit vom Heidelberger Katechismus ausgegangen, der von Zacharias Ursinus, einem Melanchthon-Schüler stamme. Typisch für Melanchthon sei eine starke Gebets- und Bibelfrömmigkeit gewesen, aber eine nur verhaltene Sakramentsfrömmigkeit. Das finde sich so auch im Reformiertentum. Anders als die reformierten Kirchen habe Melanchthon aber auch neue, evangelisch vertretbare Formen der Heiligenverehrung gesucht, und keine Probleme damit gehabt, von Gott ein Bildnis zu machen und in den Kirchen Bilder zu lassen oder sogar neu aufzuhängen.
Eine ganz besondere Linie führe von Melanchthon ferner zur reformierten Heidelberger Irenik im frühen 17. Jahrhundert.
Professor Dr. Antonie Vos, Leuven kommt in seinem Referat „Melanchthon on Free Will“ zu dem Schluss, dass Melanchthon in seinen Loci communes theologici (1521) ganz klar gemacht habe, dass es seines Erachtens keine Willensfreiheit geben könne, weil Gott alles ewig destiniert und bestimmt habe. Nach dem jungen Melanchthon wirke dieser Wille Gottes notwendigerweise auf alles. Das sei aber bestimmt nicht, was Melanchthon in seinem zweiten Druck (1535) verteidigt habe: Gott könne nicht die Ursache der Sünde sein. Darum müssten es Willen, Freiheit und Freiheit des Willens geben, und also sei die Wirklichkeit nicht notwendig, aber kontingent. Melanchthon habe eine scotische Ecke gerundet.
Professor Dr. Anthony Milton, Sheffield zeigte in seinem Vortrag „Melanchthon and England from 1560 onwards“ die Wirkungsgeschichte Melanchthons im englischen Protestantismus in der nachreformatorischen Zeit auf. Besonders unter den anglikanischen Autoren in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts sei Melanchthon ein Modell für die anti-calvinistische Reformation gewesen, wobei er mit Lehren Arminians und obrigkeitlicher Reformation in Verbindung gebracht und der distinktive Einfluss von Melanchthons Luthertum auf die englische Reformation behauptet worden sei. Aber der eher abweichende Einfluss Melanchthons durch die bedeutende (und oft vernachlässigte) Wirkung des Heidelberger Katechismus und dem dazugehörigen Kommentar aus der Feder von Melanchthons einstigen Schülers Ursinus möge in der Tradition der englischen Reformation oftmals nur oberflächlich wahrgenommen worden sein. Eine andere eigentümliche Wirkung von Melanchthons Autorität möge zudem in dem frühen englischen Gemeindeverständnis greifbar werden.
„Melanchthon und die Schule in Sárospatak im 16. Jahrhundert“ lautete der Beitrag von Professor Dr. András Szabó aus Budapest. Die Kleinstadt Sárospatak in Nordostungarn sei nach der Schlacht bei Mohács (1526) in dem Besitz von dem mächtigen Baron Péter Perényi gewesen. Daher habe er auch zwischen 1534 und 1541 einen Wohnturm und die Stadtmauer errichten lassen. Obgleich der Baron noch 1531 nach Loreto gepilgert sei, habe er sich schon kurze Zeit später der Reformation angeschlossen, beeinflusst durch seinen Hofprediger Mihály Siklósi. István Gálszécsi, ein Schüler Melanchthons, scheine um das Jahr 1537 nach Sárospatak gekommen zu sein. Er sei zunächst Hofprediger, ein Jahr später Pfarrer des Marktfleckens gewesen. Die Pfarrschule der Stadt wäre dann durch seinen Einfluss, und zwar nach dem Muster, das ihm noch von Wittenberg aus vertraut war, protestantisch geworden. Einige Jahre später hätte Péter Perényi mit Melanchthon persönlich korrespondiert. Im Jahre 1542 habe er ihm drei Briefe geschrieben, die leider nicht erhalten geblieben seien. Der Wittenberger Professor habe am 27. März 1545 dem Hochadeligen geantwortet. Melanchthons Brief handle hauptsächlich von den Schulen – nicht von der in Sárospatak allein, sondern auch von denen, auf anderen Gütern von Péter Perényi.
Die späteren Melanchthonschüler (Lehrer und Pfarrer in Sárospatak), Pál Thúri Farkas, Balázs Szikszai Fabricius und János Balsaráti Vitus, seien in den 60-er Jahren des 16. Jahrhunderts Mitbegründer der reformierten Kirche Ungarns gewesen. Zur Zeit der Konfessionalisierung sei auch die Schule in Sárospatak zu einer der repräsentativsten Institutionen dieser Kirche geworden.
Professor Dr. Andreas J. Beck, Leuven beleuchtete in seinem Beitrag „Melanchthon und die reformierte Scholastik“ das Verhältnis Melanchthons zur reformierten Scholastik ausgehend vom Kontext der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universität. An der frühneuzeitlichen Universität seien, trotz der nicht unbedeutenden Einflüsse des Humanismus und der entsprechenden Universitätsreformen, bei denen Melanchthon zu einem guten Teil mitgewirkt habe, Philosophie und Theologie im methodischen Sinne weitgehend scholastisch geblieben und hätten so ein wichtiges Erbe der mittelalterlichen Universität bewahrt. Aus dieser Perspektive stelle sich die Frage, inwiefern Melanchthon als Wegbereiter der protestantischen Scholastik gelten könne, komplex dar. Deutlich sei jedoch, dass der Einfluss Melanchthons auf die reformierte Scholastik nicht unterschätzt werden dürfe.
Über die reformierte Debatte zur Bekenntnishermeneutik anlässlich des Augustana-Jubiläums im Jahre 1830 berichtete Johannes Hund, Mainz. Er zeigte anhand von zwei Beispielen die Eingebundenheit der reformierten Debatte in die zeitgenössischen Diskussionsstränge. So sei der erweckte Erlanger Theologieprofessor Krafft daran interessiert gewesen, die Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts wieder als kirchliche Norm zu etablieren, während die Pfarrer der beiden reformierten Gemeinden in Leipzig und Dresden in aufklärerischer Tradition die Bekenntnisschriften „ihrem Geist nach“ hätten verstehen wollen, um der steten Verbesserung in der Gotteserkenntnis Raum geben zu können.
Der Beitrag von PD Dr. Günter Frank, Melanchthonakademie Bretten, beleuchtete die Melanchthon-Gedächtniskultur seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Sei Melanchthon im 19. Jahrhundert noch ein herausragender Reformator und Gelehrter an der Seite Martin Luthers gewesen, und damit Inbegriff des Kulturprotestantismus, wäre dieses Melanchthoninteresse nach dem 1. Weltkrieg im Zuge der Lutherrenaissance abrupt abgebrochen. Erst im vergangenen halben Jahrhundert habe sich ein neues, positives Melanchthonbild herauskristallisiert, das sowohl im Melanchthon-Jubiläum aus Anlass des 500. Geburtstages im Jahr 1997 als auch im Melanchthon-Gedenkjahr 2010 aus Anlass des 450. Todestages in der Öffentlichkeit kommuniziert worden sei. Dessen zentrale Themen seien: Ökumene, Bildung und Philosophie.
Der Vortrag „Simon Oomius on Melanchthon, a reformed-pietistic approach“ von Professor Dr. Frank van der Pol, Kampen, ging von der Beobachtung aus, dass Melanchthons Präsens im kollektiven Gedächtnis der niederändischen Reformierten und dem der Pietisten niederländisch-reformierter Tradition heute eher als gering zu veranschlagen sei. Melanchthon komme in ihrem Forschungsprofil einfach nicht vor. Sein Studium der dreibändigen Institutiones Theologiae Practicae, verfasst im 17. Jahrhundert von Simon Oomius, zeige aber, dass dieses minimale Interesse an dem geistlichen Einfluss von Melanchthon eine unzureichende Wahrnehmung der Vergangenheit verrate. Oomius zeichne nämlich geradezu ein Interesse weckendes reformiert-pietistisches Bild von Melanchthon.
Mit seinem Vortrag „Melanchthon im Kontext der reformierten Tradition der Neuzeit“ machte Prof. Dr. Matthias Freudenberg, Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel, darauf aufmerksam, dass die reformierte Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts Melanchthon zum Teil zurückhaltend und nur gelegentlich explizit zustimmend gegenübergestanden hätte. Während sich bei Friedrich Schleiermacher Spuren von Melanchthons anthropologischem und soteriologischem Zugang zur Theologie erkennen und bei Heinrich Heppe ein aktuelles Interesse an Melanchthons Unionsgedanken und seiner Irenik feststellen lassen würde, diagnostiziere Karl Barth bei Melanchthon die Gefahr eines natürlichen Zugangs zur Soteriologie. Angesichts der gelegentlich einseitigen Melanchthon-Rezeption dieser Epoche solle eine reformierte Theologie der Zukunft das am Menschen und seinem Heil orientierte Potential von Melanchthons Theologie neu wertschätzen lernen und ihre Wirkungen auf Dokumente wie den Heidelberger Katechismus und die Leuenberger Konkordie als Ausdruck einer überkonfessionellen Inanspruchnahme Melanchthons bedenken, welche zugleich die Vielgestaltigkeit der reformierten Theologie spiegele.
Professor Dr. Andreas Mühling führte mit seinem Beitrag „Melanchthon im kirchenpolitischen Fokus der Zürcher Theologen“ aus, dass Wittenberg und Zürich, die beiden Zentren der Reformation, durch die Jahrzehnte hindurch in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander gestanden hätten. Mühling nahm die Korrespondenzen Melanchthons mit Zürcher Theologen seit den dreißiger Jahren genauer in den Blick. Es habe sich gezeigt, dass Melanchthon insbesondere in den vierziger und frühen fünfziger Jahren von hoher kirchenpolitischer Bedeutung für die Zürcher gewesen sei. Er habe hier theologisch als einer der Ihren gegolten. Der Zürcher Antistes Bullinger habe sich ein Votum Melanchthons zugunsten Zürichs erhofft – eine Hoffnung, die sich angesichts der heftigen Abendmahlsstreitigkeiten zwischen Westphal und Calvin endgültig zerschlagen hätte.
Fazit: „Die beträchtliche Bedeutung Melanchthons für die reformierte Theologie, Frömmigkeit und Bildung zeigt sich nun noch deutlicher und stellt zugleich die einseitige Assoziation der reformierten Tradition mit Calvin in Frage. Melanchthon wirkte international über sein ausgedehntes Netzwerk mit Gelehrten und kirchlichen Leitern, seine Bildungs- und Universitätsreformen, seine Schüler und sein überaus vielseitiges Schrifttum; er war Praeceptor Europae, nicht nur Germaniae. Die einzelnen Tagungsbeiträge stammen von Forschern aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, England und Ungarn und werden veröffentlicht bei Vandenhoeck & Ruprecht im Rahmen von Refo500“ [Prof. Dr. Andreas Beck, Leuven]