THEOLOGIE VON A BIS Z
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Vorherbestimmung und freier Wille
Überlegungen von Gottfried Wilhelm Leibniz
51. Von dem Wollen selbst kann man nun nicht recht sagen, es sei ein Gegenstand des freien Willens. Richtig gesprochen wollen wir handeln und nicht wollen, sonst könnten wir ja weiter sagen, wir wollen den Willen haben zu wollen und so weiter in infinitum. Wir folgen auch nicht immer dem letzten Urteil des praktischen Verstandes, wenn wir uns zum Wollen entschließen; aber beim Wollen folgen wir immer dem Endergebnis aller Neigungen, die ebenso der Vernunft wie den Leidenschaften entstammen, und dies geschieht häufig ohne ein ausdrückliches Urteil des Verstandes.
52. Beim Menschen wie auch sonst überall ist also alles gewiß und im voraus bestimmt und die menschliche Seele ist eine Art geistiger Automat, wenn auch die zufälligen Handlungen im allgemeinen und die freien Handlungen im besonderen nicht im Sinne einer absoluten Notwendigkeit notwendig sind, denn das wäre mit der Zufälligkeit ganz unvereinbar. So wird diese Zufälligkeit und Freiheit weder durch die Zukünftigkeit selbst, so gewiß sie auch ist, noch durch die unfehlbare göttliche Voraussicht, noch durch die Prädetermination der Ursachen und die göttlichen Entschlüsse zerstört.
Bei der Zukünftigkeit und der Voraussicht gibt man dies, wie gesagt, zu, und da der göttliche Beschluß einzig und allein in dem Entschlusse besteht, nach einem Vergleiche aller möglichen Welten die beste von ihnen auszuwählen und ihr mitsamt allem Inhalt Existenz zu geben durch jenes allmächtige »Fiat«, so liegt es auf der Hand, daß dieser Beschluß nichts an der Beschaffenheit der Dinge ändert und daß er sie in dem Zustande beläßt, in dem sie sich schon als reine Möglichkeiten befanden; d. h. daß er nichts an ihrer Essenz oder Natur und sogar nichts an ihren, schon vollkommen in der Vorstellung dieser möglichen Welt enthaltenen Akzidenzen ändert. Das Zufällige und Freie verbleibt demnach in seinem Zustande angesichts der göttlichen Beschlüsse wie auch angesichts der Vorsehung.
53. Könnte dann etwa Gott selbst (sagt man) nichts mehr in der Welt verändern? Sicherlich könnte er, seiner Weisheit ungeachtet, im Augenblicke nichts verändern, da er ja die Existenz der Welt und ihres Inhaltes vorausgesehen und jenen Entschluß, ihr zur Existenz zu verhelfen, selbst gefaßt hat: vermag er sich doch nicht zu täuschen oder Reue zu empfinden; außerdem steht es ihm nicht zu, einen unvollkommenen Entschluß, der nur auf einen Teil und nicht auf das Ganze geht, zu fassen.
Ist so alles von Urbeginn an geregelt, so ist es diese hypothetische Notwendigkeit allein, über die man sich ganz und gar einig ist, welche dafür sorgt, daß nach göttlicher Vorsehung oder nach seinem Entschlusse nichts mehr geändert wird: und trotzdem bleiben dabei die Geschehnisse selbst zufällig. Denn (stellen wir einmal jene Annahme von der Zukünftigkeit der Sache, von der Vorsehung oder von dem göttlichen Beschluß beiseite, eine Annahme, welche das Eintreffen der Sache schon antizipiert und nach der man sagen muß: Unumquodque quando est, oportet esse, aut unumquodque siquidem erit, oportet futurum esse [Ein jedes muß sein, wenn es ist, aber auch: ein jedes muß, wenn es sein wird, ein Zukünftiges sein] das Geschehnis enthält selbst kein Moment der Notwendigkeit, demzufolge keine andere Sache an seiner Stelle geschehen könnte. Und was die Verbindung der Ursachen mit den Wirkungen anbelangt, so haben wir ja eben dargetan, wie sie den frei Handelnden nur anspornt, ohne ihn zu zwingen; auf diese Weise erzeugt sie nicht einmal eine hypothetische Notwendigkeit, sofern sie nicht etwas Äußerliches damit in Verbindung bringt, nämlich jene Maxime, daß die vorherrschende Neigung sich immer durchsetzt.
54. Man kann auch sagen, wenn alles derart bestimmt ist, vermag Gott keine Wunder zu tun. Allein die Wunder, welche in der Welt geschehen, waren schon in derselben Welt, als reine Möglichkeit betrachtet, enthalten und als möglich vorgestellt; und Gott, der sie tut, hat sich damals, als er diese Welt erwählte, entschieden, sie zu tun. Man wird auch einwenden: da nichts geändert werden kann, so hätten Gelübde und Gebete, Verdienste und Verschuldungen keinen Sinn.
Dieser Einwand verursacht gewöhnlich die größte Verlegenheit und ist dennoch ein reines Sophisma. Diese Gebete und Gelübde, diese guten und schlechten Handlungen, die heute geschehen, standen Gott schon vor Augen, als er den Entschluß faßte, die Dinge zu regeln. Was in dieser wirklichen Welt geschieht, war schon in der Idee dieser Welt als bloßer Möglichkeit mitsamt seinen Wirkungen und Folgen vorgestellt, wie es die natürliche und übernatürliche göttliche Gnade empfängt, wie es die Strafe herausfordert und Belohnungen erheischt, alles wie es in dieser Welt, nachdem sie Gott erwählte, tatsächlich geschieht. Gebet und gute Handlung war damals eine ideale Ursache oder Bedingung, d. h. ein Beweggrund für die göttliche Gnade oder zur Belohnung, wie es jetzt in Wirklichkeit der Fall ist. Und da alles mit Weisheit in der Welt verknüpft ist, so hat Gott, der das freie Geschehen voraussah, auch die übrigen Dinge von vornherein dementsprechend geregelt oder (was auf dasselbe hinausläuft) er hat diese mögliche Welt, in welcher alles derart geregelt war, ausgewählt.
55. Durch diese Erwägung wird zugleich das sog. faule Sophisma der Alten hinfällig, demzufolge man überhaupt nichts tun soll: wenn das, sagte man, was ich erflehe, geschehen soll, so wird es auch geschehen, wenn ich nichts tue; und wenn es nicht geschehen soll, so wird es niemals geschehen, trotz aller Mühe, die ich mir gebe. Diese Notwendigkeit, die man sich, losgelöst von ihren Ursachen, in den Ereignissen vorstellt, konnte man, wie schon oben bemerkt, Fatum Mahometanum nennen, da die Türken, wie man sagt, auf Grund eines ähnlichen Argumentes den Orten, wo die Pest wütet, nicht entfliehen.
Aber die Antwort hierauf ist leicht: so gewiß die Wirkung ist, so gewiß ist auch die Ursache, die sie erzeugen wird; und wenn die Wirkung geschieht, so tritt sie auf Grund einer ihr entsprechenden Ursache ein. So ist deine Trägheit vielleicht daran schuld, daß du nichts von dem erhältst, was du dir wünschst, und daß du Übel erleidest, die du durch sorgsames Handeln hättest vermeiden können. Die Verbindung der Ursachen mit den Wirkungen hat also durchaus keine unerträgliche sklavische Notwendigkeit zur Folge, sie gibt uns vielmehr ein Mittel zu ihrer Beseitigung.
Ein deutsches Sprichwort sagt, der Tod will immer eine Ursache haben; und nichts ist wahrer. Du wirst an dem und dem Tage sterben (angenommen, es verhielte sich so und Gott hätte es vorausgesehen), richtig! aber das wird geschehen, weil du etwas tun wirst, das zum Tode führt. Genau so verhält es sich mit den göttlichen Strafen, die auch von ihren Ursachen abhängen. Bei dieser Gelegenheit wollen wir den berühmten Ausspruch des heiligen Ambrosius (in Kap. 1. Lucae) anführen: Novit Dominus mutare sententiam, si tu noveris mutare delictum [Der Herr weiß seinen Ausspruch zu ändern, wenn Du Dein Vergehen zu ändern weißt] , den man nicht als Verdammung, sondern als Drohung deuten soll, wie die, welche Jonas an die Bewohner von Ninive im Auftrage Gottes ergehen läßt.
Auch die gewöhnliche Redewendung: Si non es praedestinatus, fac ut praedestineris [Wenn es Dir nicht vorherbestimmt ist, so mache, daß es Dir voherbestimmt werde] darf nicht buchstäblich aufgefaßt werden; ihr wahrer Sinn liegt darin, daß derjenige, welcher zweifelt, ob er prädestiniert ist, nur das tun soll, was nötig ist, um es durch Gottes Gnade zu werden. Das Sophisma, man solle sich um nichts bekümmern, mag vielleicht zuweilen nützlich sein, um gewisse Leute anzustacheln, sich blindlings in Gefahr zu begeben, was man besonders von den türkischen Soldaten gesagt hat: mir aber scheint der Maslach mehr Anteil daran zu haben als dieses Sophisma, ganz abgesehen davon, daß sich dieser entschlossene Geist der Türken in unseren Tagen sehr versteckt hält.
58. Die ganze Zukunft ist bestimmt; daran besteht kein Zweifel; aber da wir nicht wissen, wie sie bestimmt, was vorgesehen oder beschlossen worden ist, so müssen wir unsere Pflicht tun nach der uns von Gott gegebenen Vernunft und nach den uns von ihm vorgeschriebenen Regeln. Danach dürfen wir ruhigen Gemütes Gott die Sorge um den Ausgang anheimstellen; denn er wird immer das tun, was er für das beste hält, nicht nur im allgemeinen, sondern auch im besonderen für die, welche ihm ihr ganzes Vertrauen schenken, d. h. ein Vertrauen, das sich in nichts von wahrer Frömmigkeit, lebendigem Glauben und heißer Liebe unterscheidet und uns nichts von unserer Pflicht und Dienstbarkeit, die in unseren Händen liegen, versäumen läßt.
Zwar können wir ihm keine Dienste leisten, denn er entbehrt nichts, aber in unserer Sprache heißt es Dienst, wenn wir seinen mutmaßlichen Willen zu erfüllen suchen, indem wir, soweit wir es können, an dem uns bekannten Guten mitwirken. Denn wir sollen stets annehmen, dorthin richte sich sein Streben, bis wir aus der Tat ersehen, daß er stärkere, obzwar vielleicht uns unbekannte Gründe hatte, dieses Gut, das wir uns zum Ziel setzen, zugunsten eines anderen weit größeren Gutes hintanzusetzen, eines Gutes, das er sich selbst vorgesetzt hat, und nichts unterlassen hat oder unterlassen wird, um es zu realisieren.
59. Ich habe soeben gezeigt, wie die Willenshandlung von diesen Ursachen abhängt, daß nichts der menschlichen Natur so sehr entspricht, wie diese Abhängigkeit unserer Handlungen, und daß man sonst einer absurden und unerträglichen sklavischen Notwendigkeit, d. h. dem Fatum Mahometanum verfiele: und dies ist das schlimmste von allem, da es Voraussicht und Überlegung zuschanden macht. Indessen wäre es gut, nun auch zu zeigen, wie diese Abhängigkeit der Handlungen es nicht hindert, daß in allem eine uns wunderbar erscheinende Spontaneität steckt, die gewissermaßen die Seele in ihren Entschlüssen von dem physischen Einfluß aller anderen Geschöpfe unabhängig macht.
Diese bis jetzt wenig bekannte Spontaneität, die unsere Herrschaft über unsere Handlungen soweit wie möglich ausdehnt, ist eine Folge des Systems der praestabilierten Harmonie, auf das ich jetzt etwas näher eingehen muß. Die Schulphilosophen glaubten. es bestände ein wechselseitiger physischer Einfluß zwischen Körper und Seele, aber seit man erkannte, daß das Denken und die Materie nichts miteinander gemeinsam haben, sondern daß es toto genere verschiedene Schöpfungen sind, sahen mehrere Moderne ein, daß es keine physische Verbindung zwischen der Seele und dem Körper gäbe, obgleich die metaphysische Verbindung ständig vorhanden ist und es bewirkt, daß Seele und Körper ein Substrat bilden, das man eine Person nennt.
Gäbe es nämlich eine solche physische Verbindung, dann könnte die Seele die Geschwindigkeit und Richtung irgendwelcher Bewegungen in dem Körper und der Körper umgekehrt die Gedankenfolge in der Seele ändern. Man kann jedoch diese Wirkung aus keiner Vorstellung herleiten, die man im Körperlichen oder Seelischen antrifft obwohl wir nichts genauer kennen als die Seele, da sie uns, d. h. sich selbst innig vertraut ist.
Aus: Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee, Übersetzung von Artur Buchenau, Philosophische Bibliothek Band 71, Verlag von Felix Meiner Verlag
Gottfried Wilhelm Leibniz